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Das Tischleindeckdich der Seele

Wozu sind Träume gut und welche Funktion haben Fiktionen? Im Interview mit Félicien Trebeau spricht der Philosoph und Linguist Anatole A. Sonavi über mögliche Formen des Umgangs mit den Erfindungen der Nacht und des Tages.

Félicien Trebeau: In Ihrem kürzlich erschienen Buch «Nos nuits, nos journées, nos inventions» heisst es an einer Stelle, die Träume seien das Tischleindeckdich unserer Seele – wie haben Sie das gemeint?

Anatole A. Sonavi: Das Bild steht für die Art, wie wir in unseren Träumen Wünsche auf das Tischlein unserer bewussten Wahrnehmung zaubern – so, dass sie oft aus dem Nichts zu kommen scheinen. Natürlich verarbeiten wir in Träumen auch die Geschehnisse der jüngsten Vergangenheit sowie allerlei alte Geschichten. Der Teil aber, der mich am meisten interessiert und mich auch in meinem Buch vorrangig beschäftigt, hat mit dem Wünschen zu tun und mit der Erfindung von Geschichten und Bildern, die diese Wünsche wie trojanische Pferde durch die Mauern diverser Abwehrsysteme in unser Bewusstsein schmuggeln. Das hat auch schon Siegmund Freud ganz ähnlich formuliert. Natürlich ist die Sache dort erheblich komplizierter, aber im Grunde hat Freud behauptet, dass wir uns in unseren Träumen Wünsche erfüllen – auch wenn das manchmal auf einen ersten Blick gar nicht so aussieht. Und ich glaube, dass er recht hatte. Jedenfalls versuche ich meine eigenen Träume immer so lange zu befragen, bis ich den Wunsch in ihnen verstehe. Man kann natürlich ganz verschiedene Fragen an Träume richten – ich stelle immer die Frage nach dem darin enthaltenen Wunsch.

Aber es gibt doch viele Menschen, die unter ihren Träumen leiden – die Nacht für Nacht schweissgebadet aus den fürchterlichsten Phantastereien hochfahren. Und denen wollen Sie nun erklären, dass sich in ihren Alpträumen Wünsche äussern?

Natürlich sind die Wünsche oft entweder verborgen oder aber wir können sie nicht als solche akzeptieren, aus ethischen oder moralischen Gründen – oder einfach, weil der Wunsch unsere Lebenspläne durchkreuzen würde, unserem Selbstkonzept widerspricht.

Wie meinen Sie das?

Wenn zum Beispiel ein Familienvater homoerotische Träume hat, dann steht ein solcher Wunsch natürlich quer zu seinem Lebensplan. Oder wenn eine frisch verheiratete Frau träumt, dass sie ihren Ehemann in die Luft sprengt – dann widerspricht das natürlich ihrem Selbstverständnis als liebende Gattin.

Das sind aber eher einfache Beispiele mit simpler Deutung. Meine eigenen Träume sind jedenfalls erheblich komplexer.

Sie haben recht. Natürlich sind unsere Träume oft viel komplizierter – denn die Wünsche drücken sich meist auf Umwegen aus. Das hat damit zu tun, dass wir auch im Traum gewisse Zensuren vornehmen – das heisst wir werden einen Wunsch so lange bearbeiten, metaphorisieren oder verklausulieren bis er eine Gestalt angenommen hat, die für uns halbwegs akzeptabel ist. Erst in dieser Form kann er uns bewusst werden. Deshalb sind es in den Träumen oft auch weniger die grossen Linien denn die Details, auf die es ankommt – durch ihre Analyse können wir möglicherweise eine Vorstellung von unseren Wünschen bekommen. – Allerdings gibt es auch eine beträchtliche Differenz zwischen dem, was wir träumen, und dem, was wir in wachem Zustand als Traum erinnern. Vielleicht findet bei diesem ‹Übergang› erneut eine Art Zensur statt. Sicher auch funktionieren wir träumend nach einer etwas anderen Logik als im wachen Zustand – da findet also nochmals eine Übersetzung statt. All dies führt dazu, dass wir den Traum, wie wir ihn erinnern und vielleicht sogar erzählen können, als das Resultat eines recht komplexen Prozesses ansehen müssen.

Trotzdem können wir im wachen Zustand versuchen, den Wunsch wieder aus seiner metaphorischen Umklammerung zu lösen – ihn im Dickicht der Verklausulierungen zu erkennen. Das bedeutet natürlich viel Arbeit – und gelingt längst nicht immer. Auch kann man nie ganz sicher sein, dass man den Traum wirklich richtig verstanden hat. Mich interessiert allerdings auch nicht in erster Linie die Wahrheit, die sich hinter einem Traum verbirgt, sondern der kreative Akt der Deutung – die Interpretation, die zumindest im Bereich des Traumes ja immer auch eine Erfindung ist. Auch dieses Erfinden allerdings kann man als eine Form der Wahrheitsfindung ansehen, denn auch in ihm werden sich wieder Wünsche bemerkbar machen.

Aber warum sollen wir das überhaupt tun? Wenn Wünsche drohen, ganze Familien zu zerstören, warum sollen wir uns dann sosehr um sie bemühen?

Ich persönlich vertrete die Ansicht, dass man seine Wünsche kennen darf und sie unser Leben bereichern. Das Problem liegt doch eher darin, dass manche dazu neigen, die Wünsche für Befehle oder Aufträge zu halten – und dann wird es natürlich ungemütlich: Wenn ich dann plötzlich glaube, dass ich eigentlich meinen Mann in die Luft sprengen möchte, ja dass ich es vielleicht gar wirklich tun sollte, dann werde ich unter einem solchen Wunsch natürlich ganz erheblich leiden. Man sollte sich immer vor Augen halten, dass die im Traum ausgedrückten Wünsche ja nur Teil eines grösseren Wunschsets sind – eines Sets, das wir teils auch ganz bewusst entwerfen. Natürlich muss man sich die Wünsche nicht erfüllen, die in Träumen an die Oberfläche treten – aber es ist vielleicht doch nicht uninteressant, wenn man weiss, dass man diesen oder jenen Wunsch hat. Vielleicht versteht man dann auch andere Dinge ein wenig besser.

Sie schreiben in Ihrem Buch, Träume seien wie Fleischgerichte – wie ist das gemeint?

Ich habe nicht von Fleischgerichten gesprochen – sondern von Schmorgerichten. Aber sie haben natürlich recht: eigentlich dachte ich an geschmorte Fleischgerichte. Nun: Manche Schmorgerichte haben einen Geschmack, den man einfach nicht auf die einzelnen Zutaten zurückführen kann – selbst wenn man diese ganz genau kennt. Ähnlich vermitteln uns manche Träume ein bestimmtes Gefühl, eine Atmosphäre, die uns den ganzen Tag lang begleiten kann, ja die den Tag wesentlich mitbestimmt – und selbst wenn wir uns an die verschiedenen Teile des Traums erinnern, so scheint sich das Gefühl doch mit diesen Einzelheiten nicht verbinden zu lassen.

In ihrem Buch widmen sie ein ganzes Kapitel auch den Tagträumen, in denen wir uns oft heldenhaft oder grossartig fühlen. Und sie schreiben, dass wir auch diese Träumereien durchaus kultivieren sollen.

Ja, ich glaube, dass Tagträume eine verhältnismässig ungefährliche, lebensstrategisch und je nachdem auch gesellschaftlich wertvolle Form der Selbstüberschätzung oder auch Selbstüberhöhung sind. Nur die häufig geäusserte Behauptung, man müsse alles daran setzen, seine Träume auch zu erfüllen, halte ich für ziemlich ungesund. Ein Lehrer etwa, der gerne von sich behauptet, im tiefsten Innern eigentlich ein Grosswildjäger zu sein, ist doch für die Gesellschaft viel wertvoller als wenn er wirklich Grosswildjäger wäre – und führt als schierer Traumjäger wohl nicht nur das sicherere, sondern auch das bessere Leben. Es macht Sinn, dass viele Wünsche nur ein Traum bleiben.

Könnte man das, was über die Funktion des Traumes gesagt haben, nicht auch im Zusammenhang zum Beispiel mit Erzählungen oder Spielfilmen ganz ähnlich formulieren?

Eher nicht, nein. Auch Fiktionen dieser Art sind zwar Gucklöcher, die es uns gestatten, aus unserem persönlichen und ganz direkten Erleben heraus in andere Möglichkeiten Einblick zu nehmen. Im Unterschied zum grundsätzlich introspektiven Traum aber sind Fiktionen potentielle Erweiterungen nach Aussen, Bereicherungen in ein und derselben Ebene. Fiktionen verändern den Schärfebereich unseres persönlichen Horizonts.

Können sie den Unterschied an einem Beispiel erläutern?

Vielleicht könnte man es so formulieren. Sie sitzen in einer Eisenbahn, die gerade in einem grossen Bahnhof hält und schauen aus dem Fenster Ihres Abteils. Auch auf dem Gleis nebenan steht ein Zug. Plötzlich fährt dieser Zug los. Im ersten Moment können Sie nicht sagen, ob das nun Ihr eigener Zug oder der andere ist, der sich in Bewegung gesetzt hat. So ist es auch mit den Träumen und der Realität: In bestimmten Momenten – etwa zwischen Schlafen und Wachsein – wissen Sie nicht genau, welcher Zug nun wirklich in Bewegung ist. Bei der Fiktion ist das anders: Da wissen sie immer, dass es der andere Zug ist, der abfährt. Sie geniessen es indes, dass es – wenn sie ihr Einverständnis geben – vom Gefühl her auch ihr eigener Zug sein könnte.

Und warum interessiert sich der Mensch für Fiktion?

Wir leben ja nur ein einziges Leben. Gleichzeitig sind wir aber durchaus in der Lage, uns ganz andere Biographien für uns selbst vorzustellen – das schafft eine gewisse Sehnsucht nach all diesen Leben, die wir nicht leben können, weil wir ja schon unser Leben leben. Wohl hat der Mensch die Fiktion auch erfunden, um diesen eigenartigen ‹Mangel› etwas auszugleichen. So gesehen erfüllt uns allerdings natürlich auch die Fiktion gewisse Wünsche. Doch auf andere Weise – um es auf eine einfache Formel zubringen: Der Traum führt uns in uns hinein, die Fiktion führt uns aus uns hinaus.

HINWEISE: Dieses Gespräch zwischen Anatole A. Sonavi und Félicien Trebeau wurde 1983 geführt und erstmals in «Glas» publiziert (Ausgabe vom 29. April 1983). 1996 druckte «Leko» in einer Sonderausgabe zum Thema Traum mit Einwilligung der Autoren eine leicht veränderte Version des Interviews – auf dieser basiert auch der hier vorgestellte Text. «Nos nuits, nos journées, nos inventions» erschien 1983 bei Maisonneuve & Duprat in Sentores.

Siehe auch

First Publication: 10-2007

Modifications: 24-2-209, 18-8-2011