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In seiner 14. «WoZ»-Kolumne vom 27. Januar 2005 verirrt sich José Maria mit seiner Tante Lucie im Dschungel. Ihre Suche nach der kreisförmigen Zeichnung eines Labyrinths bleibt erfolglos – dafür aber treffen sie auf eine vom Wald überwucherte Bahnlinie, die Maria an ein Bild aus seiner Kindheit erinnert.
Alter Stich: Männer arbeiten in einem Urwald an einem Bahngeleise.

14. Unterwegs mit Tante Lucie I («Im Regenwald»)

Es geschah plötzlich und völlig geräuschlos. Erst tauchte ein Büschel schwarzes Haar in meinem Gesichtsfeld auf, dann ein orangefarbenes Hemd, ein paar kurze Hosen, Beine, Sandalen – Tante Lucie zweifellos. Eben noch war sie hinter mir her gegangen und hatte über die Hitze in dieser «gottverdammten Chlorophyll-Sauna» gestöhnt, wie sie den Regenwald wütend nannte. Jetzt aber flog sie etwa auf Kopfhöhe an mir vorbei und setze mutig zur Landung auf ein paar Kurkuma-Pflänzchen an. – Ich hatte mir ein überzeugendes Argument ausdenken müssen, meine Tante zu diesem Ausflug in den Dschungel hinter Duvet zu überreden. Alles «allzu Natürliche» war ihr nämlich suspekt – und hier gab es Natur zu Hauff: Grün und üppig wuchs sie zu einem fernen Himmel hinauf, kreischend hüpfte sie von Baum zu Baum, sie schlug mit den Flügeln, hing züngelnd im Geäst und kroch auch mal pelzig-leise die Beine hoch. Dass sich Lucie schliesslich doch hatte aufraffen können, ihre Proust-Lektüre auf der Veranda des Hotel «Caraïbes Bonheur» zu unterbrechen und mit mir etwas Zeit im Dschungel zu verlieren, hatte mit ihrer beinahe kuriosen Faszination für die Steingravuren der Arawak-Indianer zu tun – der indianischen Ureinwohner von Santa Lemusa. Hatte ich ihr doch versprochen, dass ich sie zu der riesigen, kreisförmigen Zeichnung eines Labyrinths führen würde, die nahe einem Wasserfall in den Stein gemeisselt war. Dass sei ganz bestimmt kein Labyrinth, hatte sie mich zwar sofort schnöde korrigiert, sondern wohl eher eine Variation des berühmten «Frosch-Designs» – ihr Interesse aber war geweckt. 

Lucie Maria, die jüngste Schwester meines Vaters, lebte seit Jahren schon in New York, was ihrem Umgangston eine gewisse Dynamik verliehen hatte. Sie führte eine Buchhandlung in Brooklyn, die auf technische Manuals spezialisiert war - ihr Herz aber schlug ausschliesslich für die Archäologie. – Also brachen wir auf, von Kopf bis Fuss mit Antiinsektenmittel eingerieben. Ich hatte klar vor Augen, wie wir zu dem Wasserfall gelangen würden. Und normalerweise kann ich mich auf meinen Orientierungssinn verlassen. An diesem Tag aber wurde ich plötzlich unsicher – vielleicht lag es an der schwitzenden Unzufriedenheit, die da fluchend hinter mir her trabte und alle paar Meter nach der Flasche mit dem Vitamingetränk aus meinem Rucksack verlangte. Auf jeden Fall wollte und wollte sich der Wasserfall nicht zeigen. Je länger wir gingen, desto deutlicher wurde mir bewusst: Wir hatten uns verirrt. Ich getraute mich jedoch nicht, Lucie die Wahrheit über unsre Situation zu verraten – auch hoffte ich immer noch, wir würden plötzlich doch noch zu dem Wasserfall gelangen oder wenigstens sonst einen Punkt erreichen, von dem aus ich den Weg zurück nach Duvet finden könnte.

In seinem Laden – er verkaufte Tabakwaren und Rum – hing hinter dem Tresen ein alter Stich in einem mit roten Steinchen besetzten Rahmen. Es zeigte einen Regenwald mit seinen riesigen Bäumen, Schlingpflanzen, Bromelien, Orchideen, Farnen und Lianen. Quer durch diesen Wald führte ein schmaler Schienenweg und an dessen Rande waren zwei schwarze Männer damit beschäftigt, die Natur mit Buschmessern im Zaum zu halten – sie wirkten unendlich klein unter diesen gigantischen Bäumen und ihr Tun völlig sinn- und hoffnungslos. «Das war unsere Eisenbahn», pflegte mein Opa zu sagen, «einst hat sie die eleganten Damen aus der Hauptstadt zum Bad nach Bouden geführt, heut hat sie der Wald verschluckt». Grossvater wusste allerlei farbige Geschichten vom «Smind'fe» zu erzählen – doch je älter ich wurde, desto weniger glaubte ich daran: Eine Eisenbahn auf Santa Lemusa, das klang doch ziemlich absurd. Das Bild allerdings, wenngleich ich es für pure Fiktion hielt, liess mich nicht los – und heute noch kommen mir, wenn ich mir die Arbeit über den Kopf wächst, regelmässig die zwei kleinen Männlein und ihre Eisenbahnschiene in den Sinn. – Nun aber war Tante Lucie über den Beweis gestolpert, dass es diese Eisenbahn wohl tatsächlich einst gegeben hatte. Mir kam das vor, als habe sich die Fiktion mittels einer Fussangel den Weg in die Realität gebahnt. Ausserdem waren die Schienen unsere Rettung, führte die Linie doch einst auch an Duvet vorbei. Bloss in welche Richtung sollten wir gehen?

Dieser Text von José Maria wurde erstmals publiziert in: «Die Wochenzeitung», 27. Januar 2005, Nr. 4 / S. 21.

Das war der «Smind'fe», die Eisenbahn von Santa Lemusa.
Dichter Urwald.