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In seiner 18. «WoZ»-Kolumne vom 18. November 2004 lässt sich José Maria von seiner Grippe, einem Käfer und einer Dose aus dem Nachlass von Omèr Lacanne irritieren. Dabei gibt ihm vor allem ein Passus aus einer Notiz von Lacanne Rätsel auf, in der von plötzlicher Schlaflosigkeit die Rede ist.
Eine alte Gewürzdose aus Metall mit Gewürzen.

18. Das Geheimnis der Dose («Seither schlaflose Nächte»)

Eigentlich wollte ich an dieser Stelle über einen ausserordentlichen Fund berichten. Leider aber habe ich aus der Schweiz, die mich nun zwei Jahre als Gastkünstler beherbergt hat, ein ganz und gar überflüssiges Souvenir mit auf meine Insel zurück genommen. Und also sitze ich jetzt im Schatten eines Bohnenbusches, vor mir eine Pyramide aus zerknüllten Papiertaschentüchern und in mir das ständige Bedürfnis, durch kräftiges Niesen die Welt um mich herum zur Teilnahme an meinem Leiden zu zwingen. Die andauernde Beschäftigung mit meiner Nase nimmt langsam komische Züge an. Aber immerhin kühlt mir von Zeit zu Zeit ein kleiner Windhauch die fiebrige Stirn – und ich kann meine nackten Füsse in die Sonne strecken, was mir allen Gliedschmerzen zum Trotz ein kleines, positives Körpergefühl beschert. Das Gefühl wird durch den Gedanken zusätzlich aufgewertet, dass meine Freunde in der Schweiz ihre bedauernswerten Zehen ja nun bereits langsam auf einen Winter in Moonboots vorbereiten müssen. Es hat eben doch sein Gutes, am Rande der Karibik zu Hause zu sein. – Neben der Lehne meines Sessels frisst sich ein Käfer mit einem schwarzweiss gestreiften Panzer den Bohnenblattboden unter den eigenen Füssen weg. Was für ein gigantischer Hunger, das ist als ässen wir eine vegetarische Pizza von der Grösse eines Pingpongtisches.

Ich schliesse die Augen und versuche mich in erotische Szenen hineinzufühlen – um so vielleicht die schwitzende Watte aus meinem Hirn zu treiben, die mich am Denken hindert. Allein diese Konzentrationsübung will mir heute nicht recht gelingen. Kaum hat meine Fantasie die Situationen aufgebaut, schleichen sich durch Türen und Fenster auch schon Störenfriede ein. Erst sind es nur Hungergefühle (Pizza!), die der Erotik den Garaus machen, dann aber treten die fetten Chargen des grossen Existenz-Theaters auf: Warum habe ich keine Kinder? Was wird sein wenn ich alt bin? Ab wann ist man alt? Habe ich meinen Beruf verfehlt? Ist es normal, dass mein Eckzahn wackelt? Sollte ich nicht besser an Gott glauben? Trinke ich zu viel? Hatten meine Eltern nicht vielleicht doch recht? Leide ich wirklich nur an einer alpinen Herbstgrippe – oder doch an einem asiatischen Hühnervirus?

Schluss mit dem Gackern im Geiste. Ich stehe auf und schlendere durch den Garten in Richtung Haus. Das schöne Anwesen im Nordwesten der Hauptstadt gehört meiner Schwester Elen. Sie hat sich als Spezialistin für Computernetzwerke schon sehr jung ein fettes Vermögen verdient. Zum Ausgleich kultiviert sie nun biologisches Gemüse in ihrem Garten und antwortet, seit sie vor zwei Jahren dem Dalai Lama begegnen ist, auf alle Fragen zunächst einmal nur mit einem freundlichen Lächeln. Da ist es für mich nicht immer ganz einfach, mein Karma zu bewahren. Aber ich kann mir auf dieser Erde keinen besseren Ort vorstellen, eine Grippe auszuheilen als dieses Paradies für Käfer.

Über die Veranda trete ich in die Küche ein. Und da steht er nun doch, mein Fund, unübersehbar mitten auf der alten Marmorplatte, die Elen aus einer ehemaligen Bäckerei gerettet hat - bevor das Geschäft dem Bagger zum Opfer fiel (sie hat eben ein Herz - sogar für Stein). Nun denn – dann eben doch. Bei meinem Fund handelt es sich um eine verzinkte Dose von der Grösse eines Tennisballs, auf deren Deckel in unregelmässigen Buchstaben das Wort «GEWÜRZE» eingraviert ist. Das Innere der Dose ist durch Trennwände in ein grösseres und zwei kleinere Kompartimente unterteilt. Die Dose fand ich gestern in der Küche von Manuel Confiant. Sie gehörte seinem Onkel Omèr Lacanne, der Gegenstand meines letzten Beitrags an dieser Stelle war (WoZ vom 4. August 2005). Die Dose allein hätte mich wohl kaum interessiert. Als ich sie jedoch sah, kam mir mit einem Mal eine tagebuchartige Notiz aus der Feder Lacannes in den Sinn, über die ich mich wenige Tage zuvor gewundert hatte: «In Interlaken schönes Döschen gekauft, für Gewürze. Ein grosses Fach und zwei kleine! Seither schlaflose Nächte.» Zweifellos war damit dieses Döschen gemeint. Nur wie konnte ein so harmloser Gegenstand einem marinophilen Globetrotter von Lacannes Zuschnitt schlaflose Nächte bereiten? Manuel Confiant konnte mir das nicht erklären - und also lieh ich mir das Ding für ein paar Tage aus.

Eine Antwort auf meine Frage hat das Zusammenwohnen mit dem Döschen bisher nicht gebracht. Aber wenigstens schlafe ich nicht schlechter, seit es mit mir im Haus meiner Schwester wohnt. Auch jetzt komme ich allerdings nicht weiter. Also kralle ich mir aus dem Eisschrank eine Flasche Weisswein und einen Teller mit Tintenfischsalat und kehre in den Garten zurück. Auf dem Tisch, im Schatten der Bohnen, immer noch die Pyramide aus zerknüllten Papiertaschentüchern. Ich hätte sie wegwerfen sollen. Auch der Käfer ist noch da. Ich setze mich neben ihm hin und esse. Prost Kafka, es schmeckt, es macht ein wenig glücklich – doch irgendetwas fehlt. Nur was?

Dieser Text von José Maria wurde erstmals publiziert in: «Die Wochenzeitung», 6. Oktober 2005, Nr. 40 / S. 16.

Als ässen wir auf einer Pizza von der Grösse eines Pingpongtisches.
Ein Käfer auf einem Blatt.