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In seiner 20. «WoZ»-Kolumne vom 26. Januar 2006 macht José Maria im Nachtzug von Hyderabad nach Bangalore kein Auge zu. Er denkt über Omèr Marie Edgar Lacanne nach, auf dessen Spuren er nach Indien gereist ist, träumt von Palmen oder Reisfeldern und studiert die Geräusche seiner 71 Mitreisenden.
Füsse eines Flössers auf dem Rand eines Bootes.

20. Im Nachtzug durch Indien («Das hatte ich nun davon»)

Ein helles Quietschen, ein sanftes Stossen, das mächtige Hornen der Lok - und der Zug stand schon wieder still. Das hatte ich nun davon. «José, du musst dir das ansehen», hatte Mischima Antimazzi mich beschworen, «sonst verstehst du nie, was ihn so lange dort gehalten hat». Ich war ziemlich überrascht, dass Mischima überhaupt etwas von meinen Recherchen über Omèr Marie Edgar Lacanne wusste - und staunte noch mehr, als sie mir kurz darauf vorschlug, sie doch auf einer Reise nach Indien zu begleiten. «Wir werden meine Tante Camelia in Hyderabad, Kumudini in Mysore und Cousine Shakila in Bangalore besuchen, dann fahren wir nach Kerala und lassen uns von Cousin Gopal durch die Backwaters gondeln, der vermietet dort ganze Hausboote an Touristen.»

Ich verstehe selbst nicht ganz, warum mich die tantenreichen Aussichten nicht abgehalten haben – aber ich sagte zu. Einerseits war ich neugierig, mehr über das geheimnisvolle Leben von Lacanne zu erfahren – und ausserdem hatte mir Mischima die Küchenpraxis ihrer Verwandtschaft als ein kulinarisches Kamasutra beschrieben, bei dem sich «deine Geschmacksnerven in ganz neuartiger Weise verbiegen werden.» – Was meine Recherchen betraf, so versprach ich mir einiges von dieser Reise, die mich – wenn auch auf gewürzten Umwegen - in den südindischen Staat Kerala bringen würde. In unserem Nationalarchiv hatte ich Filmfragmente von Lacanne gefunden, auf denen Bootsfahrten in einer üppigen Natur zu sehen waren. Die Aluminiumdosen, in denen das Celluloid die Jahre recht gut überstanden hatte, waren mit Titeln wie «Les eaux douces de Kerala» oder «Autour de Koumara» beschrieben. Mich hatte vor allem ein Streifen fasziniert, der den Titel «La danse de Sébastien» trug: Der kurze Film zeigte die Füsse eines Bootsmannes, der sich beim Steuern der Barke in der immer wieder gleichen Abfolge über die Planken eines Holzbootes bewegte. Ausserdem hatte sich ein kleines Heft mit mehrheitlich kulinarischen Notizen von Lacanne erhalten, das den etwas launischen Titel «poivre, poisson palmeries – la panse est au paradis» trug und den «fourneaux de Kerala» gewidmet war. All dies deutete darauf hin, dass sich Lacanne längere Zeit in der Gegend von Cochin aufgehalten hatte – warum, würde ich wohl vor Ort erfahren. Zumal mir Mischimas Cousin Gopal in einem E-Mail angekündigt hatte, er werde mir sogar die Hütte bei Cheepunkal zeigen können, in der Lacanne mit seiner damaligen Lebensgefährtin gewohnt habe – und auch «das von sieben Kokospalmen umstandene Reisfeld, das Babu Lacanne sein Eigen nannte».

Doch noch waren das Reisfeld und die Kokospalmen in weiter Ferne. Vorerst lag ich hier auf Platz acht im Nachtzug von Hyderabad nach Bangalore und starrte mich müden Auges einer schier endlosen Reihe von Ventilatoren entlang, die da Gitter an Gitter von der Decke hingen – wie eine Invasion etwas altmodisch wirkender Raumschiffe. Doch es war weder der Wind dieser tropischen Marsflotte, der mich am Schlafen hinderte, noch der fast schon poetisch markante Duft aus dem nahen Abort. Was mich immer wieder weckte, waren die ständigen Halte dieser sogenannten «Express»-Bahn. Alle fünf Minuten, so kam es mir vor, standen wir für mindestens zehn Minuten in irgendeinem Bahnhof still. Und immer die gleiche Geschichte: Kaum stand der Zug, kaum war das Rattern der Wagen und das Klopfen der Bremsen verklungen, breitete sich ein ganz anderes Geräusch in der Stille aus. 72 Betten gibt es in den indischen Liegewagen der Zweiten Klasse, das sind mindestens 72 Schläfer und damit auch mindestens 72 ganz und gar verschiedene Schnarchgeräusche. Und ich, so schien es, war auserwählt, sie in dieser Nacht alle zu studieren. Das hatte ich nun davon. Da gab es zum Beispiel den Mann unmittelbar neben mir, dessen Schnarchen dem leisen Blöken jener Schafe glich, die er im Traum wohl immer noch über ein Gatter springen liess. Eine junge Frau in einem safrangelben Sari schien von einer Karriere in Monza oder San Remo zu träumen: In einem Moment war ihr Schnarchen bellend und aggressiv, wie das metallische Schnattern eines Formel-1-Motors kurz vor dem Start. Dann verlor sich das Geräusch allmählich in entfernteren Kurven der Rennstrecke, um plötzlich wieder - quasi von hinten - laut an mir vorbei zu donnern. Der Mann auf der Pritsche unter mir war ein Schnarcher des Typus «Blitzkrieg»: Während längerer Zeit gab er sich mit einem leisen Rauschen zufrieden, wie ein Flugzeug, das ohne Motor durch die Wolken gleitet. Dann aber, ohne Vorwarnung, gab er plötzlich drei, vier wie Explosionen krachende Kehllaute von sich, um sofort wieder geräuschlos in den dunstigen Weiten des Himmels zu entschwinden. In anderen Zeiten hätte man ihm für solche Virtuosität ganz bestimmt ein Eisernes Kreuz verliehen.

Das Schnarchen mancher Schläfer zeichnete sich durch eine seltsame Dringlichkeit aus, andere schnarchten eher im Plauderton. Manche bewegten sich mit ihren Kehltönen an der Oberfläche, andere tauchten tief und grollten unheilvoll. Ganz besonders irritierend fand ich ein Schnarchen, dem ich den Namen «Gargantua» gab: Es war ein kauendes, sabberndes, dann und wann von einem gierigen Schlucken unterbrochenes Geräusch. Je länger ich zuhörte, desto mehr war ich überzeugt, dass dieser Mann wohl gar nicht schlief und schnarchte, sondern sich mitten in dieser unseligen Nacht wohl tatsächlich an einem fetten Hühnerschenkel gütlich tat. – Ich erschrak ein wenig, als ich merkte, dass ausgerechnet dieses Geräusch aus meiner eigenen Kehle drang. Das hatte ich nun davon.

Dieser Text von José Maria wurde erstmals publiziert in: «Die Wochenzeitung», 26. Januar 2006, Nr. 4 / S. 16.

«La danse de Sébastien» nach Omèr Lacanne.
Füsse eines Flössers auf dem Rand eines Bootes.