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In seiner 22. «WoZ»-Kolumne vom 18. Mai 2006 wacht José Maria – möglicherweise als Schiffbrüchiger – an einem ihm völlig unbekannten Strand auf. Hungrig und durstig schwankt er in den nahen Urwald, stösst auf einen Baum vom Ausmass einer Kathedrale und findet dort eine Frucht, die er gierig in sich hineinstopft.
Glitzernde Meereslandschaft.

22. Ein magischer Fall («Fruits & Légumes»)

Wenig später wachte ich auf weil irgendetwas in regelmässigem Takt gegen meine Füsse schlug. Es war heiss und ich spürte, wie mir der Schweiss von der Stirn in die Augehöhlen lief. Ich richtete mich auf. Unscharf nahm ich vor mir ein Glitzern wahr, einen horizontalen Perlenstreifen, der sich auf und ab bewegte. Je mehr sich meine Augen an das Licht gewöhnten, desto mehr dieser Streifen sah ich. Es war als tanzten sie für mich – und ich war fast ein wenig enttäuscht als ich einen Horizont erkannte und dann Wellen, die sich einige Dutzend Meter vor mir auftürmten, wie die Krallen eines riesigen Tieres auf mich zuschossen, um schliesslich vor meinen Füssen die Kraft zu verlieren. – Ich sass an einer Küste – so viel war sicher . Und vor mir lag die See, eine See – welche aber war es? Der indische Ozean vielleicht? Der Atlantik, der Pazifik oder gar die Adria? Der Strand war wohl hundert Meter tief, dahinter begann ein dichter Wald. Wie war ich hierher gekommen? Hatte mich die See hier angeschwemmt? War ich ein Schiffbrüchiger? Der einzige Überlebende eines Flugzeugabsturzes? Hatte mich ein Walfisch hier ausgespuckt? Und was war gestern gewesen?

In regelmässigem Takt spülten die Wellen eine Kiste aus Holz gegen meine Füsse. «Fruits & Légumes» stand darauf. Ich konnte es lesen und ich wusste, dass es Französisch war. War das ein Hinweis? Ein Hinweis auf gestern? Vorgestern?. Ich hatte Hunger und Durst. Die Sonne stand erst wenig über dem Horizont, sie stieg jedoch fast sichtbar schnell höher. Also stand ich auf und wandte mich dem Festland zu. «Hallo», das war meine Stimme, ganz leise und heiser «Hallo», rief ich dem Wald zu – und im Tosen der Brandung klang das wie ein Schluckauf der Wellen. Der Wald blieb stumm. Ich ging auf ihn zu. Die Geräusche des Ozean-Tieres hinter mir wurden allmählich leiser - und jetzt vernahm ich die Stimme von Vögeln, dann das Zirpen von Insekten, schliesslich das Rascheln des Windes in den Blättern und das leise Knarren des Geästs. All dies kam mir seltsam bekannt vor – und doch wusste ich mit Bestimmtheit, dass ich noch nie hier gewesen war.

Ich schob ein paar Zweige zur Seite und trat in den Wald. Mit einem Mal war das Geräusch des Ozeans weg und statt Salz roch ich jetzt feuchtes Holz und Moos. Es war kühler hier. Meine Augen brauchten einige Zeit, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Ich nahm einen Ast vom Boden auf und kämpfte mich mit seiner Hilfe weiter ins Dickicht vor. Es wurde dunkler und dunkler, vom Himmel war bald nichts mehr zu sehen. – Plötzlich schienen alle Tiere des Waldes wie auf Befehl zu verstummen, ja selbst das Knarren des Holzes war nicht mehr zu vernehmen. Ich stand vor einem Riesen von einem Baum. Die Rinde war glatt und schwarz, der Stamm schoss pfeilgerade und astlos in die Höhe. Weit, ganz weit oben erst begann die Krone, streckte die mächtige Pflanze ihre Arme aus. Die Blätter waren silbern oder blau und es schien, als trieben abwechselnd kleine Wolken und rötliche Lichter durch sie hindurch. Je länger ich hinaufsah, desto mehr kam es mir vor, als herrschte dort oben ein eigenes Klima mit kleinen Gewittern und Regenbogen, mit Sonnenschein und Nebel. Mitten in dieser flimmernden Kuppel aber hingen wie Lampions grosse, dunkelorange schimmernden Früchte. «Hallo» rief ich und es klang scharf wie ein Befehl in dieser völligen Stille. Im selben Moment sah ich, wie sich eine Frucht aus der Krone des Baumes löste und mit einem hellen Zischen auf mich zuschoss. Ich sprang zur Seite und Sekundenbruchteile später schlug die Frucht an jener Stelle ein, wo ich eben noch gestanden hatte.

Erst schien es, sie habe den Sturz völlig unbeschadet überlebt. Dann aber brach die dicke Schale mit einem lauten Knacken auf und die Frucht fiel in zwei Teile auseinander. Das Fleisch war wie die Schale von dunkeloranger Farbe und umhüllte einen schwarz glänzenden Stein. Es roch intensiv nach Birne und nach Papaya, ein wenig nach Banane und nach Erdbeere, doch auch wie Cassis und wie Mango. «Tutti Frutti», schoss es mir durch den Kopf. Ich musste lächeln. Doch ich wusste im Moment nicht, was ich mit diesem erneuten Hinweis auf meine Vergangenheit anfangen sollte. Im Moment war ich hungrig, sehr sogar. Also stürzte ich mich auf die Frucht, riss das Fleisch mit beiden Händen aus der grossen Schale. Es schmeckte wie es roch und wie aussah: Unglaublich süss und dunkelrot. Gierig stopfte ich es in mich hinein und während mir der Saft klebrig aus den Mundwinkeln tropfte, breitete sich in meinem Körper ein angenehmes Gefühl aus. «Vielleicht ist das Glück», dachte ich. Eigentlich aber fühlte es sich eher wie eine Art betrunkener Klarheit an – ganz als schrumpfte die komplizierte Welt auf ein paar wenige Dinge zusammen, die jetzt noch von Bedeutung waren: die Frucht.

Als ich satt war, wurde ich müde. Am liebsten hätte ich mich einfach hingelegt. Doch ich stand auf und schwankte los. Wie ein Automat schob sich mein Körper durch das Grün des Waldes. Weder spürte ich meine Beine noch die Äste, die gegen meine Arme schlugen – eigentlich hatte ich nur noch ein Gefühl für meine Nase, die jedes Blatt in diesem Wald zu riechen schien. Ich weiss nicht, wie lange ich so durch das Dickicht ging. Irgendwann aber spürte ich die salzige Luft der See. Minuten später stand ich auf einem Strand. Es war Abend, gross und dunkelrot senkte sich vor mir die Sonne ins Meer - zerstückelt von Wolkenfetzen, die grau über dem Horizont hingen. Ich legt mich in den Sand und schlief ein. Wenig später wachte ich auf weil irgendetwas in regelmässigem Takt gegen meine Füsse schlug.

Dieser Text von José Maria wurde erstmals publiziert in: «Die Wochenzeitung», 18. Mai 2006, Nr. 20 / S. 16.

War ich ein Schiffbrüchiger? Hatte mich ein Walfisch hier ausgespuckt?
Baum mit kräftigen Ästen in einem Urwald.