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Judith Albert und Samuel Herzog im Regenwald von Anaimalai. (Bild Geri Hofer)

Bern - Ashroti (Kistengeist)

Für die Ausstellung «Reisen mit der Kunst» in verschiedenen Berner Institutionen (12. April bis 18. Juni 2006) sind Judith Albert und Samuel Herzog tief in den Regenwald von Anaimalai (Tamil Nadu) vorgedrungen. Dort haben sie in den Ruinen eines alten Tempels bei Jusadmi das Volk der Ashroti entdeckt – ausgesprochen scheue Waldbewohner, die von der lokalen Bevölkerung als heilig verehrt werden. Noch nie hat sie ein Mensch zu Gesicht bekommen – es heisst jedoch, sie seien kleingewachsen, äusserst flink und von bleicher Haut. Und es heisst auch, dass sich die Ashroti exklusiv von einer bestimmten Flechte (Sasesifo) oder aber von der Aura der Kunst ernähren.

Nach Absprache mit Hed Ban, dem obersten Ashroti-Priester der Gemeinde Jusadmi, konnten Albert und Herzog zwei dieser Wesen für einige Wochen nach Europa entführen. Sie mussten allerdings schwören, dass sie nie versuchen würden, die Ashroti direkt zu Gesicht zu bekommen. «Wenn ihr die Kiste öffnet», so warnte der Priester, «werden sich die Ashroti so sehr erschrecken, dass sie sofort an einer Art Übersäuerung zugrunde gehen». – Die zwei Ashroti, vermutlich ein Männchen und ein Weibchen, wurden im Dschungel von Jusadmi mit Hilfe einer Zeichnung von Paul Klee in eine Kiste gelockt – und mitsamt diesem Behälter nach Europa transportiert.

In Bern haben Albert und Herzog die Kiste für einige Tage und Nächte ins Depot des Kunstmuseums gestellt. Gleichzeitig haben sie dort neun mit Bewegungssensoren ausgestattete Kameras positioniert – mit dem Ziel, Aussehen und Verhalten des Ashroti wenigstens ab Band studieren zu können. Insbesondere interessierte sie natürlich die Frage, auf welche Weise sich ein Ashroti wohl von der Aura der Kunst ernährt – durch eine Art Photosynthese vielleicht, oder mittels eines Kondensationsprozesses? Das Vorgehen führte leider nicht ganz zu den gewünschten Ergebnissen: Zwar zeichneten die Kameras viele Stunden Material auf – für das Studium der Ashroti aber waren die Bilder ungenügend.Depot des Kunstmuseums Bern – Bilder der Überwachungskameras.

Die Ashroti-Box ist mitsamt ihren Bewohnern während der ganzen Dauer der Ausstellung im Kunstmuseum Bern zu sehen. Wann sich die Ashroti in ihrer Kiste erholen und wann sie draussen auf der Suche nach der nahrhaften Aura der Kunst umherjagen, lässt sich allerdings leider nicht mit Bestimmtheit sagen. Man kann jedoch mit ein wenig Übung eine erhöhte Sensibilität für die Präsenz der Ashroti entwickeln. Die Einwohner von Jusadmi nehmen im Rahmen ihrer Rituale eine – nach Aussage von Hed Ban völlig harmlose - Droge namens Schagate zu sich, die es ihnen gestattet, die Bewegung der Ashroti im Dschungel und das Flüstern ihrer Stimmen zu hören. Ja, manche können nach dem Konsum von Schagate sowie mittels meditativer Übungen gar in eine Art spirituellen Kontakt mit den Ashroti treten.

Albert und Herzog haben von Hed Ban auch das Rezept für Schagate erhalten und geben im Rahmen der Ausstellungseröffnung kleine Blechdosen mit einigen Gramm dieser Mixtur an das Publikum ab. Ähnliche Dosen spielen übrigens auch bei einem in Jusadmi verbreiteten Ritual eine wichtige Rolle: Durch koordiniertes Öffnen, Schliessen und Schütteln der Dose produziert die Gemeinde eine Abfolge rhythmischer Geräusche, den sogenannten «Ashroti-Ruf». Wer beim Gang durch das Museum ein wenig Schagate auf seiner Zunge zergehen lässt, hat gute Chancen, die leisen Stimmen der Ashroti zu hören - oder wenigstens das Geräusch ihrer kleinen Füsse hinter den Stellwänden, unter den Treppen, in den Schächten der Klimaanlage. Und wenn Sie sich ganz schnell umdrehen, dann könnte es sein, dass Sie in der Luft noch die Schweissperlen eines Ashroti sehen, das gerade eben noch hinter Ihnen stand.

Bleibt die Frage, wie Judith Albert und Samuel Herzog überhaupt dazu gekommen sind, im Dschungel von Anaimalai nach Ashroti zu suchen. Der auf diesen Seiten wiedergegebene, eher skizzenhafte Text ist das Resultat einer umfangreichen Recherche. Er versucht, die Abenteuer zusammenzufassen, die Albert und Herzog nach Anaimalai und die Ashroti schliesslich nach Bern gebracht haben. Manches mag darin auf den ersten Blick zufällig erscheinen - je mehr man sich jedoch damit beschäftigt, desto deutlicher wird, dass alles wohl doch Teil eines grossen Planes sein muss.

Im Anschluss an die Präsentation im Kunstmuseum Bern zeigen Judith Albert und Samuel Herzog im Kunstraum Marks Blond Project in Bern eine filmische Version der Geschichte von Ashroti – «Anaimalai» (8. bis 13. Juni 2006).

Depot des Kunstmuseums Bern – Bilder der Überwachungskameras.
Ein Döschen mit Schagate.
Postkarte zur Ausstellung in Bern.

Siehe auch

First Publication: 4-2006 (vormals PJ110)

Modifications: 26-3-2009, 5-11-2011