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Gewürze aus Santa Lemusa

Abkürzungen

Die Bühne im ersten Stock des MAMbA. (Bild Gian Paolo Minelli)

Die Geschichte der «Autorretratos»

Zu Anfang der 1960er Jahre liess sich auf Santa Lemusa ein Maler namens Paul Ignaz Ferrari nieder. Er stammte ursprünglich aus Frankreich und soll zuvor einige Zeit auf Martinique tätig gewesen sein. Die meisten Leute nannten ihn Paul, doch signierte er seine Bilder mit «PIF» und wurde deshalb von manchen auch «Pif» gerufen. Paul war wohl schon gegen siebzig Jahre alt als er sich auf der Insel niederliess. Er wohnte an der Ostküste, was sonst kein vernünftiger Mensch tut, denn die Atlantikseite der Insel ist stürmisch und rau. Offenbar aber erinnerte ihn das an die Küsten seiner französischen Heimat. – Dieser Paul versuchte sich als Maler durchzuschlagen. Er war wohl nicht sonderlich begabt, doch hatte er eine attraktive Spezialität im Angebot: Paul liess nämlich immer die Auftraggeber entscheiden, wie die Bilder aussehen sollten. Er besass sogar eine Art Taschentheater mit kleinen Figuren, das es seiner Kundschaft ermöglichte, die gewünschte Szene zu stellen. Diese Szenen übersetze er dann in Bilder, die wirkten als seien sie nach der Realität gemalt - und nicht etwa das Abbild eines Puppentheaters. Die Sache war praktisch und brachte Paul immerhin soviel Kundschaft ein, dass er von seiner Malerei leben konnte.

«pif boug pòpòt»

Die meisten Leute mochten Paul, von einigen wurde er aber auch als «pif boug pòpòt»1 belächelt. Und 1965 zog Félicien Trebeau, der Vater des heutigen Staatspräsidenten von Santa Lemusa, in der Wochenzeitung «Glas»2 über die Kunst des Franzosen her. Er schrieb, dass man die Bilder dieses «Pif» gar nicht sehen müsse – es reiche aus, die Zutaten zu kennen, den Rest könne jeder sich selbst ausmalen. Und anstatt etwas über die Bilder zu sagen, listete er einfach die Bestandteile auf, die es für einen «echten PIF» brauche.

Zyklon «Ines»

Das war ziemlich gemein – aber «o dékontrolaj»3: Diesem Artikel ist es zu verdanken, dass wir überhaupt noch eine Ahnung von den Bildern dieses Malers haben. «Ines» nämlich, der grosse Zyklon von 1966, hat Pauls kleines Haus vollständig zerstört. Viele sagen, auch der Maler selbst sei dabei ums Leben gekommen – andere aber wollen wissen, dass er in seine Heimat zurückgekehrt sei. Sicher ist nichts, denn nach «Ines» hatte keiner auf der Insel mehr den Überblick. – Seltsamerweise behaupten heute auch alle, dass ihre Familie nie ein Bild von Paul besessen habe – immer sollen es andere gewesen sein, die «boug pòpòt» damals engagierten. Aber auch das hängt vielleicht mit dem Artikel von Félicien Trebeau zusammen, der doch alles ziemlich ins Lächerliche gezogen hat.

Die Vorderseite der kleinen Bühne von HOIO, links der Koffer mit den Requisiten. (Bild Gian Paolo Minelli)

Das Projekt von Langenthal

Mehr als dreissig Jahre nach «Ines» hat sich der karibische Künstler José Maria von der Geschichte des Malers Paul inspirieren lassen und ein Projekt daraus entwickelt: «Mich hat es fasziniert, dass da Menschen bildästhetische Entscheide fällten, die sich vielleicht noch nie mit Fragen der Komposition, der Beleuchtung etc. auseinandergesetzt haben».4 Zunächst hat sich Maria die Liste der «Zutaten» von Pauls Bildern besorgt, die Félicien Trebeau 1965 in «Glas» veröffentlich hatte. Davon ausgehend hat er Pauls Puppenbühne mit Hilfe von Playmobilfiguren und einer kleinen Kartonbühne rekonstruiert. Sodann hat er die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Musée historique von Santa Lemusa gebeten, mit den zur Verfügung stehenden Mitteln ein Bild ihrer Wahl zu schaffen. Wenig später trat er mit derselben Bitte an das Personal des Kunsthauses Langenthal in der Schweiz heran, wo Maria 2002 als Gastkünstler weilte. Die Bedingungen dieses kleinen Spiels waren an beiden Orten gleich: Maria hat die Resultate fotografiert und mit den Spielern kurze Gespräche geführt, in denen er nach Gründen für ihre ästhetischen Entscheide forschte. Die Fotografien wurden zusammen mit den Interviews unter dem Titel «Sich selbst den Rest ausmalen» im Kunsthaus Langenthal ausgestellt (mehr zu dem Projekt in Langenthal).

Das Projekt von Buenos Aires

Ein gutes Jahr nachdem dieses Projekt in Langenthal erstmals vorgestellt werden konnte, erhielt HOIO auf Einladung des Genfer Kunstraumes Attitudes die Gelegenheit, an einer Ausstellung im Museo de Arte Moderno de la Ciudad de Buenos Aires (MAMbA) teilzunehmen. HOIO suchte die Zusammenarbeit mit José Maria und man entschloss sich, das Langenthaler Projekt in einer neuen Form weiterzuführen. Als Samuel Herzog, der Geschäftsführer von HOIO, im Herbst 2003 in Santa Lemusa weilte, lud José Maria das Personal des Musée historique sowie ein paar Freunde ein, erneut nach der Art von Paul Ignaz Ferrari eine Szene zu stellen. Als Kulisse diente nun allerdings keine Kartonbühne mehr, sondern eine Ecke in der Wohnung von Maria in der Altstadt von Santa Lemusa. Als Requisiten wurden Gegenstände des täglichen Gebrauchs eingesetzt und an die Stelle der Playmobilfiguren trat Samuel Herzog, der sich auf Befehl der einzelnen Spieler so gut wie möglich verbog. Die so gestellten Szenen wurden wiederum fotografiert und die Spieler nach ihren Motiven befragt.

Wohnung im Museum

Einige Wochen später wurde die ganze Übung in Buenos Aires mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des MAMbA wiederholt. Hierfür wurde die erwähnte Ecke der Wohnung von José Maria im Museum als Kulisse innerhalb von einer Art Theaterbox rekonstruiert. Die kleineren Requisiten konnten von Santa Lemusa nach Buenos Aires transportiert werden – für die Möbel wurde vor Ort möglichst ähnlicher Ersatz gesucht. Und wieder war es Samuel Herzog, der als Figur zur Verfügung stand.5

Kurze Interviews

Die Bilder aus Santa Lemusa und die in Buenos Aires entstandenen Fotos wurden zusammen mit den kurzen Interviews auf der Rückseite der Kulisse und auf den Seitenwänden der Theater-Box im MAMbA ausgestellt. Das Projekt erhielt den Titel «Autorretratos» (oder auf Französisch «Autoportrait») weil schon in Langenthal deutlich geworden war, wie viel die Bilder und die dazugehörigen Argumente über jene aussagen, welche die Szenen gestellt haben.

Die Bilder und Interviews wurden auf der Rückseite der Kulisse und auf den Seitenwänden der Theater-Box im ersten Stock des MAMbA ausgestellt. (Bild Gian Paolo Minelli)

Anmerkungen

  1. Diese kreolische Bezeichnung bedeutet etwa soviel wie «homme à poupée» oder Puppenmann.
  2. Die modernistische, für heutige Begriffe aber eher konservative «Glas» war damals die einzige Zeitung der Insel. Sie erschien wöchentlich und ihr Kurs wurde bestimmt von Félicien Trebeau, der Chefredaktor und Herausgeber in einer Person war. 1986 wurde «Glas» eingestellt. Mehr über Zeitungen auf Santa Lemusa.
  3. «O dékontrolaj» ist ein gängiger kreolischer Ausruf, der das Aufeinandertreffen von zwei widersprüchlichen oder gegenläufigen Tendenzen bezeichnet – die wörtliche, den Sinn aber nicht ganz treffende Übersetzung wäre etwa «Oh Paradox».
  4. José Maria in einem Brief an Marianne Burki, die Leiterin des Kunsthauses Langenthal. Publiziert in: «Beseelte Landschaft – Inszenierungen». Katalog, Kunsthaus Langenthal. Basel: Christoph Merian Verlag, 2002. S. 41.
  5. Die Arbeit in Buenos Aires wäre ohne die engagierte Hilfe der Kunsthistorikerin Katja Bürer nicht zu realisieren gewesen. Sie assistierte HOIO während der Gespräche mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Museums und besorgte auch die Übersetzung der lemusischen Statements ins Spanische. Von Katja Bürer stammt auch der Text im Katalog zur Ausstellung von Buenos Aires.

Siehe auch

First Publication: 1-2003 (vormals PJ054, PJ055)

Modifications: 22-3-2009, 3-11-2011