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Ausschnitt des Titelblattes der von HOIO gestaltete Ausgabe der Zeitschrift «Schweizer Kunst» – mit einer Fotografie von Anne Bigord.

«Bühnen unserer Sehnsüchte»

von Gérôme Doussait

«Wer glaubhaft zu schildern weiss, wie er die eben verzehrten Wachteln von eigener Hand im Unterholze aufgestöbert und gefangen hat, der erhöht nicht nur das Vergnügen seiner Gäste - er sorgt auch doppelt für ihr Wohl». Mit diesen Worten beginnt «La fiction à table», jene berühmte Abhandlung aus der Feder von Lucien Blagbelle1, die Zusammenhänge untersucht zwischen Sprache und Ernährung, Denken und Geschmack, zwischen den Reaktionen des Geistes und der Zunge, Suggestion und Digestion.

Blagbelles Erben

Genau 150 Jahre sind seit der Publikation von «La fiction à table» vergangen2. Wir haben dies zum Anlass genommen, die Fiktion zum Thema des sechsten Kongresses der Association Culturelle et Scientifique des Caraïbes Atlantiques (ACSCA) zu machen – zumal Blagbelle ja auch der geistige Schirmherr dieser Veranstaltungsreihe ist. Zwar sind nur wenige Theorien von Blagbelle auch international bekannt geworden3, auf Santa Lemusa aber haben seine Spekulationen über das Wechselspiel von Essen und Denken, Diät und Diktion einen tiefen Eindruck hinterlassen. Jean-Marie Tromontis (1842-1912) war einer der ersten, die den Faden von Blagbelle aufgenommen haben4, doch scheint der Arzt auch bei einer jüngeren Generation Spuren hinterlassen zu haben. Henri Maté etwa, dessen abenteuerliche Geschichte unlängst von José Maria recherchiert und aufgearbeitet wurde, kann als legitimer Erbe des Autors von «La fiction à table» gelten. Doch auch Sarah Tibuni wandelt mit ihren Reportagen, ihren Essays und Erzählungen auf Pfaden, die schon Blagbelle erkundet hat. Und selbst bei der jungen Photographin Anne Bigord lassen sich noch Ansätze finden, die zu Blagbelle zurück verweisen. Sie alle haben ihre Projekte im Rahmen des VI. Kongresses der ACSCA vorstellen können.

Weder «wahr» noch «falsch»

Auch unter den Wissenschaftlern und Künstlern aus der Schweiz, die an dem Kongress teilgenommen haben, könnten manche eine geistige Verwandtschaft mit Blagbelle beanspruchen. Reinhard Storz etwa mit seiner Spurensuche im Nähkästchen der Tierjournalisten, Ursula Sinnreich mit ihrem furiosen Tanz durch die Kunstgeschichte, Konrad Tobler mit seiner akribischen Jagd auf Phantomschmerzen, Andrea Loux mit ihren wunderbaren Verwandlungen oder Markus Schwander mit seiner Kaugummi-Anthropologie. In all diesen Beiträgen geht es auf die eine oder andere Weise um Fiktion. Doch was ist eigentlich Fiktion? Als eine Fiktion bezeichnet man die Darstellung eines Sachverhaltes ohne überprüfbaren Bezug zur Wirklichkeit5. Die Fiktion ist demnach eine Aussage, die weder «wahr» noch «falsch» genannt werden kann. Schon Aristoteles unterscheidet zwischen Geschichtsschreibern und Dichtern: Während der Geschichtsschreiber das Geschehene mitteile, erzähle der Dichter von dem, was geschehen könnte6. Im Unterschied zu den Vorsokratikern und Platon, die Dichtung als «Lüge» ablehnten, hielt Aristoteles die Fiktion ganz entschieden für die überlegene Disziplin: Ihre Fähigkeit zur Nachahmung (Mimesis) des Möglichen lässt sie seiner Ansicht nach Aussagen von höherer Allgemeinheit formulieren als die ans Faktische gebundene Geschichtsschreibung. Das lässt sich leicht auf andere Medien wie Film oder Bildende Kunst übertragen.

Eine komplizierte Situation Damit eine Fiktion angemessen rezipiert werden kann, müssen Autor und Leser, Künstler und Betrachter einen Pakt eingehen: Der Anspruch auf Verifizierbarkeit des Dargestellten muss in den Hintergrund treten. Das schafft für den Menschen eine grundsätzlich höchst komplizierte Situation. José Maria hat sie kürzlich so beschrieben7: «Die Bühne, auf der sich dieses Erlebnis [die Rezeption von Fiktion] abspielt, hat kein Pendant in der Aussenwelt – es sind nicht die Bretter, die die Welt bedeuten, sondern es ist die Welt und es ist sie doch auch wieder nicht. Diesen Ort könnte man vielleicht den Ort der Fiktion nennen.» Maria versucht auch zu erklären, warum Fiktion beim Menschen ‹funktioniert›: «Die Wirkung von Fiktion beruht demnach auch auf der menschlichen Fähigkeit, mit Grenzen zu spielen. Diese Fähigkeit könnte man mit der Wirkungsweise eines komplexen Schleusensystems vergleichen, in dem die Wasser der Illusion, des Scheins, der Phantasie und der Realität permanent in Bewegung sind und laufend neue Mischungen hergestellt werden, die dann das jeweilige Erleben bestimmen.» – Man könnte hinzufügen, dass die Möglichkeit zur Rezeption von Fiktion wohl zu jenen Fähigkeiten gehört, die den Menschen vom Tier unterscheiden. Da liegt es Nahe, den Wunsch des Menschen nach Fiktion auch mit seinem Wissen um die Endlichkeit des Lebens in Verbindung zu bringen, so wie es Anatole A. Sonavi tat, als er in seinem Vortrag die Fiktion als die Antwort des Menschen auf seine Sehnsucht nach all den Leben beschrieb, die er nicht leben kann.

Durch Verwirrung Verstehen provozieren

Eine zentrale Bedeutung kommt im Zusammenhang mit dem Thema Fiktion natürlich auch der Sprache zu. Im Unterschied zu einem Abbild erwarten wir von einem sprachlichen Zeichen ja nicht, dass es mit der bezeichneten Sache irgendwelche Ähnlichkeit habe. Darüber hinaus ist die Sprache voller Namen für nicht existierende Gegenstände. Und sie behauptet die Realität dieser Gegenstände mit soviel Erfolg, dass viele Menschen zu der Annahme neigen, bloss weil ein Wort existiere, müsse auch die bezeichnete Sache existieren. So provoziert die Sprache allerlei Täuschung, allerlei Verwirrung - gleichzeitig geschieht durch sie aber auch viel Verstehen. Fiktion hat sich immer schon beider Eigenschaften der Sprache bedient - als ihr Ziel könnte man formulieren, dass sie durch Verwirrung Verstehen provoziert und durch Täuschung zur Wahrheit führt. Es gibt ja vermutlich keine Wahrheit an sich, sondern nur die rein subjektive Tatsache, dass etwas als wahr erscheint - die Wahrheit ist also eine Konstruktion, an der auch die Fiktion durchaus ihren Anteil hat.

Bunte Meute

Spätestens an diesem Punkt dürfte deutlich werden, dass Fiktion ein Thema ist, das in sämtliche Lebensbereiche hineinspielt. Natürlich lässt sich ein solches Thema nicht erschöpfend behandeln - weder im Rahmen eines Kongresses, noch in Form einer Publikation. Endgültige Antworten oder Definitionen waren indes auch nicht unser Ziel. Wir haben vielmehr versucht, das Thema auf möglicht vielfältige Weise anzugehen - Theoretiker wie Praktiker zu Wort kommen zu lassen, mal aus einer Metaperspektive heraus auf die Sache zu blicken, mal mitten drin zu stehen. Die vorliegende Publikation spiegelt - mal mehr, mal weniger - die Ereignisse während des VI Kongresses der Association Culturelle et Scientifique des Caraïbes Atlantiques (ACSCA). Leider war es allerdings unmöglich, alle Kongress-Teilnehmer auch in der Publikation zu Wort kommen zu lassen. Vieles kommt ausserdem hier in gekürzter Form daher, manches gar nur skizzenhaft. Einige der Positionen, die hier unwidersprochen stehen, haben im Rahmen des Kongresses zu heftigen Auseinandersetzungen geführt. Davon kann diese Publikation leider keinen Eindruck vermitteln. Genauso wenig kann sie die Diskussionen wiedergeben, die zwischen einzelnen Kongressteilnehmern oft bis tief in die warmen, lemusischen Nächte hinein geführt worden sind. Wir haben indes versucht, dieses Heft so zu gestalten, dass es auch als ein eigenständiger Beitrag zum Thema verstanden werden kann - als ein Lese- und Bilderheft, welches das Thema zwar nicht einfängt, doch immerhin mit einer bunten Meute durch den Wald jagt.

Dieser Text von Gérôme Doussait und Michel Babyé wurde erstmals in der Zeitschrift «fiction» («Schweizer Kunst», Nr. 1, 2003) unter folgendem Titel publiziert: «Bühnen unserer Sehnsüchte. Was ist Fiktion? Eine Einführung von Gérôme Doussait und Michel Babyé». 

Anmerkungen

  1. Lucien Blagbelle war ein wahrer Universalgelehrter alten Schlages. Neben der Medizin galt sein grösstes Interesse den Geheimnissen der Ernährung, der Küche und des Essens (mehr zu Blagbelle).
  2. Lucien Blagbelle. «La fiction à table». Sentores: Maisonneuve & Duprat, 1853.
  3. Über die Grenzen der Karibik hinaus berühmt geworden ist Blagbelle vor allem mit seiner sogenannten «Inversions-Kur», von der kürzlich auch eine Schweizer Zeitung berichtet hat (wobei Blagbelle allerdings fälschlicherweise als Franzose bezeichnet wurde). Am 1. April 2003 wurde diese Kur in der Neuen Zürcher Zeitung (S. 57) wie folgt beschrieben: «Patienten, die eine unerklärliche Abneigung gegen einzelne Speisen haben, empfahl der französische Arzt und Gastrosoph Lucien Blagbelle zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine sogenannte ‹Inversionskur› – eine Art Schocktherapie: Wer etwa keine Muscheln mag, der soll auf Anraten von Blagbelle diese Abneigung gerade durch den Verzehr von Muscheln überwinden – nicht mit einer einzelnen Auster, sondern mit einer ganzen Armada davon soll das Wunder dieser kulinarischen Umstellung bewerk stelligt werden».
  4. Einiges in den Schriften von Tromontis geht auf Blagbelle zurück – auch wenn der etwas jüngere Gastrosoph sein grosses Vorbild nur sehr selten erwähnt.
  5. Kant beschreibt Fiktion als «gedichtete und zugleich dabei für möglich angenommene Gegenstände». In: «Kritik der reinen Vernunft», B 799.
  6. «Poetik», Kapitel 4.
  7. José Maria: «Wenn Godzilla kommt». In: «Die Wochenzeitung», Nr. 5, 30. Januar 2003. S. 20.

Eine Doppelseite aus der von HOIO gestaltete Ausgabe der Zeitschrift «Schweizer Kunst» zum Thema «Fiktion» (Sarah Tibunis Geschichte «Die Austern von Layon»).

Siehe auch

First Publication: 6-2003 (vormals PJ047)

Modifications: 12-3-2009, 3-11-2011