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Tokio, Roppongi Dōri, «Sushizanmai»

Szene 17

Pünktlich um vier Uhr morgens fand er sich bei «Sushizanmai»* an der Roppongi Dōri ein und bestellte, wie ihm befohlen, eine Portion «Horse Mackerel Live Sashimi». Maille ass grundsätzlich kein Frühstück – allerdings musste er ja auch nicht essen, nur bestellen. Er kannte das Lokal und ahnte auch, was sich hinter der Bezeichnung «Live Sashimi» verbarg

An seinem ersten Abend in Tokio war er schon einmal hier gewesen und man hatte ihm einen Platz an der Bar zugewiesen. Neben ihm sass ein alter Mann mit einem Gesicht, in dem die Runzeln und die Altersflecken wohl täglich darum stritten, wer das Antlitz zum Schluss ganz in seine Macht bringen würde. Mit leicht zittrigen Händen führte er wieder und wieder ein Schälchen Sake an seine Lippen – gierig und doch voller Ehrfurcht. Dann stellte der Sushimeister ein kleines Tellerchen vor ihm hin, auf dem über Rettichstreifen kunstvoll der Kadaver eines kleinen Fisches in Szene gesetzt war. Kopf und Schwanzflosse waren mit Hilfe eines Holzstäbchens so verbunden, dass der Körper einen eleganten Bogen beschrieb. Das Fleisch des kleinen Tiers lag neben seinem blossgelegten Rückgrat zum Verzehr bereit. Bevor sich der Alte jedoch über sein Sashimi hermachte, beugte er sich über den kleinen Fisch und sprach zu ihm – im Gesicht eine seltsame Mischung aus Ehrfurcht und Spott. Erst da bemerkte Maille, dass das Tierchen, obwohl von seinem Fleisch befreit, immer noch nach Luft schnappte und wie im Todeskrampf seine Schwanzflosse spreizte. Dem Alten schien das zu gefallen und jetzt detektierte Maille auch etwas Triumphierendes in dessen Blick: «Ja, mein junger Freund, dich hat es wohl erwischt», schienen seine Augen zu sagen: «Ich selbst bin zwar schon uralt – aber ich, ich mach's noch eine Runde».

«Live Sahimi» bedeutet, dass ein Fisch aus dem Aquarium genommen und innerhalb so kurzer Zeit filettiert, drapiert und serviert wird, dass das Tier auf dem Teller immer noch am Leben ist, technisch gesprochen wenigstens. Ein solcher Fisch ist gewissermassen das Gegenteil von einem gewöhnlichen Sashimi oder auch Sushi. In der westlichen Welt haben diese japanischen Fisch-Snacks ja einen solchen Erfolg weil sie zugleich unsere Sehnsucht nach so etwas wie «Natur» bedienen und unsere Angst davor berücksichtigen. Einerseits sind Sushi roh und damit ursprünglich und wild. Sie wecken die Bestie in uns – denn es sind ja sonst vor allem Tiere, die ihr Fleisch roh verzehren. Gleichzeitig aber sind Sushi wie Sashimi so präpariert, dass man Lichtjahre entfernt ist vom Tier (als Fleischquelle) und den menschlichen Verrichtungen an ihm – viel weiter als bei jedem Hühnerschenkel. Untersuchungen haben gezeigt, dass Zeitgenossen, die eigentlich keinen Fisch essen, oft doch mit Vergnügen Sushi konsumieren als eine weitgehend geruchsneutrale und blutlose Form von Natur.

Beim «Live Fisch» ist das anders. Hier sieht man, wie das Tier stirbt während man es isst. Es zuckt noch und man glaubt etwas in seinen Augen zu erkennen. Und es zuckt noch lange, vor allem mit dem Schwanz. Auch Austern isst man ja bei lebendigem Leib – aber die Lebendigkeit von Austern ist abstrakter, vielleicht weil sie keine Augen haben. So ein «Live Fisch» kitzelt natürlich auch den Tierschützer in uns wach – allerdings werden frische Fische auch sonst meist bei lebendigem Leib filettiert. Der Unterschied ist nur, dass das, was nebst dem Filet von einem Fisch übrig bleibt, da in einer Mülltonne die letzten Zuckungen macht - während er als «Live Fish» auf dem Tisch sein Leben aushaucht, als Skulptur gewissermassen.

Vielleicht ist es typisch für Japan, dass hier auch das Sterben und sogar die Qual Elemente einer ästhetischen Inszenierung sein können. Und man ist geneigt, darin ein – vielleicht durchaus perverses – Überbleibsel der grossen Rituale der Samurai-Zeit zu sehen.

Hektor Maille allerdings fühlte sich gar nicht wie ein Samurai an diesem morgen im «Sushizanmai». Schon beim Bestellen hatte er Herzklopfen und wurde das Gefühl nicht los, etwas Unerlaubtes, Unerhörtes zu tun. Und als der Fisch dann vor ihm auf dem Daikonrettich sein Leben auszuckte, war auch klar, dass der beste Agent des lemusischen Geheimdienstes in diesem Fall eine Ausnahme von seiner Frühstücks-Regel würde machen müssen - vielleicht auch weil ihm ein bizarres Tanka von Mizuhara Shion noch im Ohr nachklang:

Uo hameba
uo no haka naru
hito no mi ka
tamukuru gotoku
kuchzukenikeri

Wird der Menschenleib
wenn er einen Fisch verspeist
zum Grabmal des Fischs?
Ich küsste, als brächte ich
eine Opfergabe dar

Gedicht und Übersetzung aus: «Gäbe es keine Kirschblüten…». Stuttgart: Reclam Verlag, 2009. S. 205. Hören Sie wie das Gedicht auf Japanisch klingt.

* Zanmai oder auch Samadhi bezeichnet im Yoga eine Art Versenkung, einen Bewusstseinszustand jenseits von Denken, Wachen, Schlafen oder Träumen, ein völliges Aufgehen im Gegenstand der Meditation.