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Die Blumen, die auf der Fensterbank des Schlafzimmer stehen, werfen Schatten auf die Wand – Haus meiner Eltern an der Morystrasse in Riehen. (Sonntag, 18. Januar 2015)

80. Flasche

Komische Fragen

Alsace Riesling Bernard Schwach Grand Cru Schlossberg 2011

Von aussen unbewegt hat der Wein eine leicht medizinische Note, auch etwas von einem sehr künstlichen Frucht-Bonbon. Mit der Bewegung zieht mehr Frische auf, ein Kalksteinboden in der Sonne, leichte Anklänge von Javelwasser, mit der Zeit auch von Lindenblüte und Limette. Im Mund ist der Wein süss, mit feiner Säure, dicklich aber nicht sehr komplex. Von innen erinnert er an einen sehr stark gesüssten Lindenblütentee mit einem Spritzer Zitronensaft, auch ein eher schwerer Blütenduft hängt in der Luft, Holunder vielleicht?

Gestern glaubte meine Mutter, sie müsse jetzt sterben. Mein Vater, meine Brüder und ich, wir haben uns um ihr Bett versammelt. Doch sie ist nicht gestorben. Gestern regnete es in Strömen – heute scheint die Sonne, aber es ist so kalt, dass der Reif auch tagsüber nicht von den Dingen weicht.

Ich bin alleine mit ihr. Es ist ruhig in dem Zimmer. Dann und wann schlägt der Wind die Äste eines Baums gegen irgendeine Röhre oder eine Verkleidung im Untergeschoss – das wirkt als rüttle jemand an dem Haus. Im Hintergrund rauschen in unregelmässigen Abständen Autos vorbei – sie scheinen weit entfernt, als glitten sie durch eine andere Welt. Das schärfste Geräusch ist das Ticken des Weckers auf dem Nachttisch. Ihr Bauch knurrt dann und wann laut als ob sie hungrig sei – mein Bauch knurrt weil ich hungrig bin.

Die Abendsonne strahlt jetzt fast waagrecht in den Raum. Die Blumen, die auf der Fensterbank stehen, werfen Schatten auf die Wand. Es ist als versuchten sie Kontakt aufzunehmen mit den geschmiedeten Nachttischlampen, die sich rankenden Pflanzen nachgeformt sind. Ich giesse einen Earl Grey Tee für Mama auf. Friedlich tropft ihr Magensaft durch ein Röhrchen in den Plastiksack, der am Nachttischchen hängt.

Wir suchen nach den glücklichsten Momenten in ihrem Leben. Wir haben schon über ihre erste richtige Freundin gesprochen, mit der sie als Kind Äpfel gestohlen hat. Dann über ihre beste Freundin am Mädchengymnasium, mit der sie gerne Federball spielte. Jetzt frage ich sie nach meiner Geburt: «Das war etwas unvorstellbar Schönes: Ich dachte ich sei der glücklichste Mensch auf Erden und der einzige, der so etwas zustande bringt». Das hat sie mir auch früher schon manchmal erzählt – in bewegten Momenten, nach ein paar Flaschen Wein, mit Tränen in den Augen. Jetzt will ich wissen, ob sich das Glücksgefühl erst bei der Geburt eingestellt habe – oder ob es schon während der Schwangerschaft aufgetreten sei. Sie stösst pfeifend Luft durch die Nase aus und starrt dann zur Decke. Nach einigen Minuten sieht sie mich an und schüttelt leicht den Kopf: «Was stellst du nur für komische Fragen?»

Mit der Zeit lässt der Riesling an einen Topf Honig denken, in dem eine Zitronenscheibe und ein Stück Rinderkuttel gewirkt haben. Doch dann kommt uns plötzlich das Kunstharz in den Sinn, das man auf den Boden von Segelschiffen aufträgt. Doch das ist vielleicht nur ein Versuch, wenigstens im Glas eine Versöhnung zwischen unseren Eltern herbei zu zwingen. Verstehen muss das niemand.

Getrunken am Sonntag, 18. Januar 2015 in der Küche meiner Wohnung über dem Bahnhof Tiefenbrunnen in Zürich (Schweiz). Gekauft im Geschäft von Bernard Schwach in Riquewihr (€ 16.50 im August 2014).

Nächste Flasche

Alsace Riesling Bernard Schwach Grand Cru Schlossberg

AOC, 2011, 13% Vol.

100% Riesling

Weisswein aus dem Elsass (Frankreich), produziert von Bernard Schwach, Domaine du Moulin de Dusenbach in Ribeauvillé (auf Karte anzeigen). 

First Publication: 18-1-2015

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