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Seit mehr als fünfhundert Jahren bestimmen die Türme des Basler Münsters die Silhouette der Stadt. (Mittwoch, 1. Oktober 2014)

70. Flasche

Potz Plötz

Alsace Riesling Valentin Zusslin Clos Liebenberg Monopole 2011

Von aussen unbewegt riecht der Wein nach der sonnenwarmen Schale einer Zitrusfrucht, nach Honig und frisch gewaschenen Haaren, blond. Am oberen Rand des Glases ist auch der Duft einer noch etwas warmen Apfelwähe. Mit der Bewegung kommt eine alkoholische Frische ins Spiel, die ein wenig an Aftershave erinnert, das sich schon gut mit der Haut verbunden hat – eine morgendliche Aufgewecktheit. Daneben wird ein kleines Plastikkübelchen mit Aprikosen-Gelee aufgerissen, wie sie früher auf den Frühstückstischen italienischer Touristen-Hotels üblich waren – Aroma von Albicocca, in der Mailänder Industriezone hergestellt. Beim tiefen Schnuppern weht ein blumiges Damenparfum über den Tisch – oder wird der Steinboden in der Küche feucht aufgenommen? Immer wieder steigen neue Duft-Varianten aus den Tiefen des Weines auf – der Riesling ist wie eine sanfte und doch lebendige Stimme im Glas, der man lange zuhören möchte.

Das Wort «plötzlich» malt laut, wie etwas ohne jede Vermittlung jäh so weit ist, dass es geschieht. Heute war es plötzlich so weit, dass ich die letzten Fleischstücke aus meinem gemieteten Gefrierschrank nehmen konnte, um ihn abzutauen und zu retournieren. Heute war es plötzlich so weit, dass ich meine letzten Bücher an das Digitalisierungs-Zentrum schickte und also künftig keine physische Bibliothek mehr besitzen werde. Heute war es plötzlich so weit, dass mein harter Büro-Sessel mir endlich doch so stark auf einen Nerv drückte, dass ich kaum noch gehen konnte. Mein Gefühl von Sicherheit rührt zu einem wesentlichen Teil daher, dass viele Dinge nie so weit sind – gleichgültig, ob es um meinen Gefrierschrank, meine Bücher oder meine Nerven geht. Ich schiebe einen dicken Bauch, eine Komfortzone aus Ungeschehenem vor mir her und empfinde jede Art von Plötzlichkeit als eine Bedrohung, eine Lebens-Bedrohung – mag das Geschehen noch so nebensächlich sein. Natürlich weiss ich, dass das so nicht geht, dass Leben Veränderung bedeutet, dass die Realität ständig im Fluss ist. Aber spreche ich von der Realität? Ich spreche von einem Satz, der hätte weitergehen können, wäre da nicht auf einmal jäh ein Punkt gekommen, ein Plötz eingeschlagen.

Ich habe heute meine Eltern in Riehen besucht – auch mein um zwei Jahre jüngerer Bruder und seine beide Töchter waren da. Die Jüngste hat etwas von einer Freundin erzählt – und dabei jeden Halbsatz mit den Worten «Bla Bla Bla» beendet. Ich fragte sie, was sie damit meine – und sie erklärte mir, dass dies «etc.» bedeute, «usw.», «Punkt Punkt Punkt – verstehst du?» Man könnte also auch sagen «Plötz Plötz Plötz». Doch gerade das ist das Tragische: Plötze lassen sich eben nicht ins Kontinuierliche zwingen – sie sind das schiere Gegenteil von Bla Bla Bla.

Im Mund ist der Wein leicht süsslich mit einer klaren Säure und hinterlässt eine leichte Trockenheit an den Schleimhäuten. Von innen spielt er zunächst den dicken Stein und perlt uns wie Mineralwasser über die Zunge – kaum hat sich die Aufregung gelegt, wird ein feiner Quittengelee ausgestrichen – vielleicht ist das die Quintessenz aus Rasierwasser, Apfelkuchen und Industriekonfitüre? Das Gelee hat ein paar Tropfen Zitronensaft abbekommen – und vielleicht reisst jemand gerade die Zesten von einer Pampelmuse. Auch eine leichte Bitterkeit ist da – so weist uns der Wein darauf hin, dass er ernst genommen werden möchte. Zum Ernst gäbe es viel zu sagen, doch Plötz.

Getrunken am Mittwoch, 1. Oktober 2014 in der Küche meiner Wohnung über dem Bahnhof Tiefenbrunnen in Zürich (Schweiz). Gekauft in der «Boutique Clos 3/4» in Mulhouse (€ 23.20 im August 2014).

Nächste Flasche

Alsace Riesling Valentin Zusslin Clos Liebenberg Monopole

AOC, 2011, 13% Vol.

100% Riesling

Weisswein aus dem Elsass (Frankreich), produziert von Domaine Valentin Zusslin in Orschwihr (auf Karte anzeigen). Vin Biodynamique.

First Publication: 2-8-2014

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