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Das Haus meiner Eltern kam mir immer riesig vor – heute aber hatte ich ständig das Gefühl, ich müsse den Kopf einziehen. (Sonntag, 21. September 2014)

68. Flasche

Riesenlümmel

Alsace Riesling Moltès Terre d’ Apollon 2011

Von aussen unbewegt riecht der Wein nach Stahl und nach Pissoire im Winter. Mit der Bewegung tritt ein kalter Stein auf, leicht pudrige, kreidige Brocken, die sich für die Hände wie mit Mehl bestäubt anfühlen. Das Parfum von abgekühltem Urin schwingt weiterhin mit – vor allem, wenn man die Nase etwas distanziert über das Glas führt. Auch ein verrottender Apfel liegt irgendwo herum.

Im Mund ist der Riesling eher süsslich, mit einer feinen Säure, die im Nachklang etwas wässrig-essigartig wirkt. Von innen wird das, was von aussen ein mehliger Stein war, zu einem etwas banalen Ton, der spontan an den Mundeindruck von saurem Apfelmost denken lässt.

Ich war heute in Riehen, auf Besuch bei meinen Eltern. Ich traf meine Mutter im Schlafzimmer an, geschwächt von der Chemotherapie lag sie auf ihrer Hälfte des Doppelbettes und hörte Radio. Ich weiss nicht, wann die andere Hälfte des Bettes zuletzt benutzt wurde – mein Vater schläft seit einiger Zeit in einem separaten Zimmer und ich glaube kaum, dass er sich noch irgendwann zu ihr legt. Trotzdem hat meine Mutter ganz offenbar eine grosse Scheu, sein Bett mit ihren Dingen zu besetzen – sie stapelt das ganze Zeugs, das sie wegen ihrer Krankheit in Griffweite haben muss, lieber auf ihrem Nachttisch und am Boden davor. So wirkt ein Teil des Raumes sehr voll und eng, der andere leer und unbelebt. Nur der Radio stand auf dem Betteil meines Vaters – bis er abgeschaltet und ebenfalls auf ihrem Nachttisch versorgt wurde.

Als ich die Treppe runter stieg, um mit meinem Vater einen Kaffee zu trinken, kam mir das grosse Haus, das in meiner Kindheit eine Welt war, für die topographische Karten zu entwerfen sich lohnte, plötzlich ganz klein vor, wie eine Puppenstube. Ja mir war, als müsste ich mich ducken, um mir in der Treppenhalle nicht den Kopf zu stossen – alles schien falsch dimensioniert, als hätte ein Architekt versucht, die Raumfolge eines Palastes auf dem Platz einer Sozialwohnung unterzubringen. Oder als wäre ich plötzlich enorm gewachsen, ein Riesenlümmel geworden.

Mit der Zeit entwickelt der Riesling eine gefällige Süsse, die billig wirkt – was er der Nase verspricht, hält er dem Mund auf jeden Fall nicht ein, das differenzierte Erlebnis findet nicht statt.

Getrunken am Sonntag, 21. September 2014 in der Küche meiner Wohnung über dem Bahnhof Tiefenbrunnen in Zürich (Schweiz). Gekauft bei «Au Monde du Vin» in Saint-Louis (€ 7.00 im Juni 2014).

Nächste Flasche

Alsace Riesling Moltès Terre d'Apollon Terroir

AOC, 2011, 13% Vol.

100% Riesling

Weisswein aus dem Elsass (Frankreich), produziert von Antoine Moltès, Cave familiale, in Pfaffenheim (auf Karte anzeigen). Grand Concours des Vins d'Alsace 2012 Médaille d'Or.

First Publication: 21-9-2014

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