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Die Laube von Marcellos «Trattoria Roma» nahe bei Valodes liegt heute verlassen da.
Ein luftiges, hellblaues Häuschen mit einer gedeckten Terrasse auf allen Seiten.

Die «Trattoria Roma»

Wer von der Hauptstadt aus auf der N2 in Richtung Norden fährt, sieht nach etwa vier Kilometern, kurz vor Valodes, rechts neben der Strasse ein einstöckiges, fahlblaues Gebäude stehen – es ist ein kleiner Kiosk, der allseits von einer Art Laube umgeben ist. Zur Strasse hin sind die Türen und Fenster heraus gebrochen. Auf der Rückseite aber stösst man auf ein mit einer Kette verschlossenes Tor, dessen Flügel mit zwei kunstvoll ausgesägten und farbig bemalten Palmenmotiven verziert sind – sie erzählen davon, wie viel Sorgfalt einst in die Ausstattung dieses kleinen Gebäudes investiert wurde. 

Einst eines der begehrtesten Lokale

Heute ist es so still hier, dass man sogar das Gurgeln der Wildhühner hört, die im nahen Gebüsch nach Insekten oder Würmern suchen. Nur dann und wann braust ein Auto vorbei - wie eine Ohrfeige, die einen mitten im Schlaf trifft. Denn dieser Abschnitt der Nationalstrasse 2 gehört zu den wenigen Strecken auf der Insel, die gerade sind und einigermassen gut ausgebaut. Hier kann man Gas geben - und das tun die wenigen Inselbewohner ganz gerne, die über ein eigenes Auto verfügen. 

Ein kunstvoll verziertes Tor zeugt davon, wieviel Sorgfalt einst in die Ausstattung dieses kleinen Gebäudes investiert wurde.
Eine alte blaue Türe mit Palmen drauf.

Völlig ausgeräumt wirkt der luftige Holzbau heute verlassen und schläfrig. Man kann sich kaum vorstellen, was für ein buntes Treiben hier noch vor kurzer Zeit herrschte – als der kleine Kiosk noch «Trattoria Roma» hiess und eines der begehrtesten Lokale der Insel war. Nacht für Nacht war die Bude von Fahrzeugen umstellt, machten sich Autos und Fahrräder, Eselskarren und Motorrad-Rikschas die Plätze streitig. Die Laube und die dahinter angebaute Terrasse waren mit Girlanden aus farbigen Lampions behängt und in deren flackerndem Licht drängten sich die Leute an kleinen Tischen zusammen – denn hier, bei Marcello, konnte man bis zum Morgengrauen für wenig Geld wunderbare Teigwaren-Gerichte essen. 

«Sugus» – ungewohnt und köstlich

Berühmt waren vor allem Marcellos Saucen. Immer wieder erstaunte er seine Kundschaft mit neuen Kreationen. Kühn und mit viel Geschick kombinierte er die verschiedensten Produkte der Insel zu oft etwas ungewohnten, stets aber überaus köstlichen «Sugus», wie er seine Saucen nannten. Legendär war etwa eine cremige Sauce mit knusprigen Shrimps, die mitsamt ihrer Schale karamellisierten worden waren («Sugus Anita»). Famos auch die in Lammjus und Limettensaft mit vielen Bergkräutern gekochten Minikraken («Sugus Evolution»), die Marcello über ganz dünnen Spaghetti servierte. Mal waren seine Saucen kräftig und erdig, mal feurig scharf oder fast schon süsslich, mal vielschichtig und dann wieder ganz eindeutig – nur etwas waren seine Saucen nie: Sie waren nie so richtig «italienisch».

Im Innersten ein Italiener

Erstaunlich war das nicht, hatte Marcello doch in seinem Leben noch nie einen Fuss auf italienische Erde gesetzt. Marcello hiess nämlich eigentlich Mike Ouko und stammte aus Kisumu am kenianischen Ufer des Lake Victoria. Er war pechschwarz und sprach nebst Luo und Kiswahili lediglich ein arg gebrochenes Englisch. In den 80er Jahren allerdings hatte er am Fernsehen «La Dolce Vita» von Federico Fellini gesehen und sich unsterblich in Anita Eckberg verliebt. Seither war er überzeugt, dass er in seinem tiefsten Innern eigentlich ein Italiener sei. Diese Passion für das Italienische lebte Mike zunächst nur dadurch aus, dass er allgemein darauf bestand, Marcello gerufen zu werden. Ausserdem besass er ein italienisches Kochbuch, das ihm eine Entwicklungshelferin aus Bochum mitgerbracht hatte: Es hiess «Die Küche der Lorenza de Medici» und war gut 130 Seiten dick. Da Marcello weder Deutsch konnte noch Lesen und Schreiben, war er allerdings ganz auf das Studium der Bilder angewiesen. Ja eines Tages kaufte sich Marcello sogar eine alte Lambretta, die er an manchen Abenden voller Stolz über die Oginga Odinga Road stiess – zum Laufen brachte er sie leider nie. Marcello arbeitete lange als Aushilfskellner auf der Terrasse des «Hotel Royale» von Kisumu, fand aber dann eine Stelle als Hilfskoch in der Küche einer britischen Hotelkette in Nairobi, wo er sich bald zum Alleinkoch für den Nachtservice hocharbeitete. So war er für all die Kleinigkeiten gegen den schlaflosen Hunger verantwortlich, die manche Gäste des «Intercontinental» mitten in der Nacht noch zu bestellen geruhten: Omelettes mit Würstchen zumeist oder Club-Sandwiches mit verschiedenen Füllungen. Seiner Passion für das Italienische tat die Arbeit im britischen Ambiente indes kaum einen Abbruch – im Gegenteil: Während der Nachtstunden, die er meist ganz allein in der grossen Hotelküche verbrachte, begann er italienische Rezepte zu kochen – oder vielmehr wohl zu erfinden. Denn bei seinen Experimenten orientierte sich Marcello ganz an den Bildern in seinem Kochbuch, aus denen er Zutaten und Zubereitungsweisen herauszulesen suchte.

Als Schiffskoch auf der «Lampedusa»

Heikel wurde die Situation erst, als Marcello begann, diese Gerichte auch den Gästen im Hotel zu servieren. Im Sommer 1994 bekam so mancher Hungrige im «Intercontinental» anstelle des bestellten Thunfischsandwichs einen Teller mit Teigwaren aufs Zimmer serviert. Erstaunlich lange ging das gut. Bis Marcellos Erfindungsreichtum eines Tages auf eine belgische Vegetarierin traf, die ihre nächtliche Nervosität mit einer Gemüsesuppe zu besänftigen suchte: Marcello servierte einen Teller mit einem Nest feinster Nudeln, aus dem in adretter Weise die Köpfchen von flambierten Crevetten ragten. 

Ein seltsames Stillleben am Rande der «Trattoria Roma».
Eine blau angemalte Meeresschnecke.

Zwei Tage später traf Mike-Marcello in Mombasa ein. Zum Abschied hatten ihm seine Kollegen aus der Küche ein T-Shirt geschenkt, auf dem in roten und grünen Lettern geschrieben stand: «Italians do it better». Mike hoffte, in einem der zahlreichen Touristenhotels an der Küste eine neue Anstellung zu finden. Doch dann traf er Ji, einen Matrosen aus Shanghai, der auf einem italienischen Frachter namens «Lampedusa» angeheuert hatte. Die Verständigung war schwierig, denn auch Ji sprach nur sehr schlecht Englisch. Trotzdem begriff Marcello, dass der Kapitän des Frachters nach einem Koch für seine kleine Mannschaft suchte. Was für eine Gelegenheit – Italien schien plötzlich in greifbare Nähe zu rücken. Natürlich sagte Marcello sofort zu und schon am nächsten Morgen richtete er sich in der kleinen Kombüse ein. Viel hatte er ja nicht dabei: ein paar Kleider, ein kleines Radio, ein Küchenmesser mit Ebenholzgriff, ein Poster von Anita Eckberg, das Kochbuch der Lorenza de Medici und - quasi als Glücksbringer für die Reise – das elegant geschwungene Rücklicht seiner Lambretta.

Razzia im Hafen von Port-Louis

Auch als Marcello drei Jahre später in Port-Louis von der Gendarmerie verhaftet wurde, waren seine Habseligkeiten kaum mehr geworden. Mit der «Lampedusa» war er nach Kolumbien und nach Marokko, nach Südafrika, Mexiko und zuletzt nach Guadeloupe gekommen. Eifrig hatte er all die Zeit hindurch für die Mannschaft und ihren Kapitän gekocht – einfache Gerichte meist, Deftiges, wie es Seeleute eben lieben. Und Woche für Woche hatte er gehofft, dass ihre Reise irgendwann nach Italien führen würde. Wenn sie in einem Hafen anlegten, dann suchte Marcello nach Schiffen mit Reiseziel Genua oder Neapel - allein jene, die er fand, wollten offenbar keinen schwarzen Koch, dessen Herz für Anita Eckberg schlug. – Im Frühling 1997 dann, als die «Lampedusa» im Hafen von Port-Louis vor Anker lag, führte die Gendarmerie zusammen mit der Hafenpolizei eine Razzia an Bord des Schiffes durch. Man fand Schmuggelware im Wert von mehreren Millionen Francs, Waffen und sogar Drogen. Die Mannschaft und ihr Kapitän wurden verhaftet, das Schiff polizeilich beschlagnahmt. – Natürlich hatte Marcello keine Ahnung von den heiklen Geschäften seines Kapitäns. Zu diesem Schluss kam nach einigen Tagen auch die Polizei - und so wurde der Schiffskoch auf freien Fuss gesetzt. Mit der Auflage allerdings, sich entweder eine Arbeit zu suchen oder aber binnen Monatsfrist das Land zu verlassen.

Von der Eisdiele zur Trattoria

Marcello fand – Ironie des Schicksals – einen Job als Hilfskoch in der Gefängnisküche. Er freundete sich auch mit seinem Chef an, einem ursprünglich aus Sansibar stammenden Koch namens Oliver. Dieser betrieb zum Nebenerwerb eine kleine Eisdiele an der N2, die Geschäfte gingen jedoch jämmerlich schlecht. Eines Tages machte er Marcello den Vorschlag, die Eisdiele als Pächter zu übernehmen – zu überaus günstigen Konditionen. - Marcello willigte ein und so war die «Trattoria Roma» geboren. Zu Beginn verkaufte Marcello Eis, schon in der zweiten Woche aber bot er daneben ein erstes Pastagericht an – Spaghetti mit dem legendären «Sugus Déboulé», eine Hommage an den Vulkan, an dessen Fuss er sein kleines Lokal betrieb. Die Sauce bestand vorrangig aus Kapern, die er selbst gesammelt hatte - und schmeckte ebenso ungewöhnlich wie lecker. Das sprach sich herum und bald war die Neugier der Insel-Gourmets geweckt. Marcello bot ständig neue Pastagerichte an und stellte den Verkauf von Eis vollständig ein.

Von der Terrasse hinter der ehemaligen «Trattoria Roma» hat man einen herrlichen Blick in die waldige Landschaft der Umgebung.
Eine gedeckte Terrasse, im Hintergrund ein weiter Garten.

Unter dem Titel «Le cuisinier italien, qui n'a jamais vu son pays» publizierte Diana Erroux in «Leko» vom 5. Dezember 1997 eine Reportage über die Laube an der N2 – von da an war Marcellos Pasta endgültig in aller Munde. Auch Giuseppe Antimazzi, der Doyen der italienischen Küche auf Santa Lemusa, soll hin und wieder bei Marcello gegessen haben. Ja es heisst sogar, Antimazzi habe den Pasta-Koch für sein eigenes Restaurant engagieren wollen, ohne Erfolg allerdings. – Mehr als zwei Jahre lang stand Marcello Tag für Tag in der kleinen Küche seiner «Trattoria» – meist bis zum Morgengrauen. Er kochte seine «Klassiker», erfand aber auch immer wieder neue Rezepte. Die Leute konnten kaum genug kriegen von Marcellos Pasta – und wohl verdiente der Koch in jenen Jahren auch einiges Geld, waren die Kosten für Miete und Material doch eher gering.

Plötzlich verschwunden

Eines Tages aber dann war Marcello plötzlich weg. Die Kunden, die hungrig in die «Trattoria» gekommen waren, fanden alles vor wie sonst – nur Marcello fehlte. Man rief die Gendarmen. Doch die Polizei konnte nichts finden, das auf ein Verbrechen hingedeutet hätte. Das einzige, was in dem Lokal zu fehlen schien, war das Rücklicht einer Lambretta – es hatte, wie Stammkunden versicherten, stets über dem Eingang zur Küche gehangen. – Marcello blieb verschwunden. Allgemein war man der Ansicht, er habe wohl doch noch seine Reise nach Italien angetreten. Oliver, der Besitzer der Laube an der N2, fand einen neuen Pächter für das Restaurant – doch der Erfolg blieb aus und schon nach einem halben Jahr gab er das Lokal endgültig auf. – Heute noch trauern die Gourmets der Insel Marcellos Pasta nach. Und es heisst auch, dass vielen Autofahrern das Wasser im Mund zusammenläuft, wenn sie an der Ruine jener Laube vorbeirasen, in der einst die «Trattoria Roma» ihre seltsam exotischen Düfte verströmte.

Relief einer Palmenkrone aus Holz.

Siehe auch

First Publication: 8-2004

Modifications: 4-3-2009, 30-9-2011, 16-3-2012