Würde man die Weltkugel auf Meereshöhe glatt rasieren, dann hätte sie an dieser Stelle eine mehr als vierhundert Meter tiefe Delle. An keinem anderen Ort kommt man dem Mittelpunkt der Erde vergleichbar nahe, man steckt mitten drin in der dicken Planetenhaut. Alles ist hier Kruste, alles ist hier Salz. Der Meeresboden scheint aus grossen Platten zu bestehen, die mit einem dumpfen Wummern wieder und wieder gegeneinander stossen. Man spürt das als Überspannung des Trommelfells. Am Ufer tobt das Salz die ganze Vielfalt seiner möglichen Formen aus. Ohne ersichtlichen Grund ist es mal zähnefletschende Grotte, mal rosaroter Marmor, mal feiner Kiesel, mal verschlungenes Organ, Sand, Bruch, Schnitt, Schrunde, Schramme, rostiger Schrott. Man verliert das Gefühl für die Dimensionen der Welt, fühlt sich plötzlich im Innern eines Kristalls, im Herzen eines Salzkorns.
Nichts, was den Planeten sonst ausmacht, findet man hier wieder – es ist ein Ort von perfekter Schönheit, der durch keinerlei organisches Leben verunreinigt wird. Wenn es einen Gott gibt, der die Welt erfunden hat, dann zeigt er dem Menschen am Toten Meer, dass er sie auch anders hätte gestalten können – absoluter, geradliniger. Mit dem Menschen kann diese Welt nichts anfangen. Während alle anderen Ozeane etwas Saugendes, etwas Verschlingendes haben, gegen das man sich andauernd wehren muss, durch Schwimmbewegungen, Bootsplanken, Rettungsringe, lässt das Tote Meer den Menschen gar nicht in sich hinein.
Auch beim Baden oder vielmehr beim Treiben auf dieser Lauge, spürt man etwas wie einen feinen Film zwischen dieser Flüssigkeit und der Haut – es ist als ob das Wasser den Körper gar nicht erreiche. Man wird nass und bleibt doch völlig trocken. Am Toten Meer erscheint der Planet so voll von sich selbst, dass er im Grunde nur enden kann. Und mit einem Mal erscheint das Leben weiter oben wie eine Panne, ein Versehen – eine kostbare Imperfektion.
First Publication: 7-1-2013
Modifications: 22-6-2013