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Ob sie wohl sind, was sie scheinen? Riesenschirmlinge im Valle Vigezzo.(Sonntag, 29. Oktober 2014)

72. Flasche

Verbotene Frucht

Alsace Riesling Sipp Grand Cru Kirchberg 2009

Von aussen unbewegt riecht der Wein nach einem hellen, frisch geputzten Steinboden. Mit der Bewegung kommt eine kalkig-metallische Note auf, ein völlig reiner Ton, wie der Klang eines Triangels. Im Mund ist der Riesling trocken, mild, wenig sauer und ganz leicht süss. Von innen riecht er erst nach gekochtem Kalbfleisch, dann stärker nach Mandeln, die vielleicht auch leicht angeröstet sind. In den Winkeln spielt zitronige Fröhlichkeit mit.

Beim Spaziergang durchs Valle Vigezzo standen heute plötzlich vier Riesenschirmlinge mitten auf dem Weg. Sie wollten mitgenommen werden. Ich kenne mich mit Pilzen überhaupt nicht aus. Sieht man von ein paar Pfifferlingen ab, habe ich noch nie einen von mir selbst gefundenen Pilz verzehrt. Nun werde ich mir die Hüte zum Nachtessen braten. Natürlich habe ich berufene Pilzsammler um Rat gefragt – und auch zwei Pilz-Bestimmungsbücher konsultiert. Alles scheint ganz eindeutig – ich habe einen Parasol auf dem Tisch. Ebenso eindeutig allerdings ist meine Unruhe. Sie resultiert aus dem mächtigen Restzweifel, der Angst, dass ich mich vergiften könnte.

Warum nur glaube ich weder meinen Augen ganz noch den klaren Worten von Kennern? Rührt es daher, dass ich grundsätzlich daran zweifele, dass man die Natur richtig einschätzen kann? Halte ich mich selbst für unfähig? Habe ich grundsätzlich kein Vertrauen? Oder habe ich einfach zu oft erlebt, dass das Offensichtliche nicht dem Tatsächlichen entsprach? Habe ich Angst, dass der Pilz eine gemeine Falle ist – und am Ende nicht ich den Schirmling fresse, sondern er mich, bis ich den Parasol zumachen?

Ich weiss, dass ich unruhig schlafen werde. Bauchweh habe ich jetzt schon ein bisschen, wenigstens habe ich die Nummer des Toxikologischen Notfalldienstes bereit gelegt. Und auch morgen werde ich immer wieder an die Möglichkeit denken, dass ich mich plötzlich mit Schaum auf den Lippen auf dem Boden krümmen könnte – oder wirres Zeugs reden oder plötzlich den rechten Arm nicht mehr bewegen. Wahrscheinlich werde ich Kopfschmerzen bekommen und mich dann fragen, ob das wohl eine erste Vergiftungserscheinung ist. Vielleicht werde ich auch einen leichten Schwindel spüren. 

Warum also esse ich die Pilze? Warum setze ich mich einem solchen Stress aus? Die Antwort fällt leicht. Es geht darum, ein Stück Welt für mich zu öffnen. Der von mir selbst gefundene Pilz ist mir eine Verbotene Frucht – sein Verzehr eine Grenzüberschreitung. Wohl klar, dass dies mit Ängsten verbunden sein muss.

Nun habe ich plötzlich einen Aluminiumlöffel im Mund, doch er verschwindet schnell. Bei aller Mineralität hat der Riesling auch eine honigartige Seite, etwas Einlullendes, ungemein Feinwürziges, als habe ein kleiner Lebkuchen sich darin aufgelöst, vor vielen Jahren schon allerdings. Beim Nachkauen entwickelt der Wein plötzlich eine schwere, fast etwas dunkle Seite – es ist wohl eine würzige Lakritze, die ein wenig an Hustensaft erinnert.

Getrunken am Sonntag, 10. Oktober 2014 in der Küche meiner Wohnung über dem Bahnhof Tiefenbrunnen in Zürich (Schweiz). Geschenk von S. Wymann, erhalten im Juli 2014.

Nächste Flasche

Alsace Riesling Louis Sipp Grand Cru Kirchberg de Ribeauvillé

AOC, 2009, 13.5% Vol.

100% Riesling

Weisswein aus dem Elsass (Frankreich), produziert von Louis Sipp in Ribeauvillé (auf Karte anzeigen). 

First Publication: 19-10-2014

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