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«Die auf der Erde wohnen»

Patmos (Grecce) Prasovouna
Im Zentrum der südlichen Halbinsel von Patmos
Samstag, 17. August 2013

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Die «Offenbarung», das letzte Buch des Neuen Testaments, liest sich über weite Strecken wie die grosse Vergeltungsphantasie eines von der Welt tief, gefährlich tief gekränkten Teenagers. Es ist ein Text wie aus dem Tagebuch eines Amok-Läufers. Es geht in der «Offenbarung» ja nicht darum, mit Gewalt irgendeine Form von Ordnung oder Gerechtigkeit herzustellen, sondern es geht allein um die Bestrafung selbst, die keinerlei Funktion hat – es sei denn jene, die grenzenlose Macht des Bestrafers zu demonstrieren. Typisch für den Sadismus der Schrift ist zum Beispiel die Anweisung an die Heuschrecken, die Menschen nicht sofort zu töten, sondern fünf Monate lang zu quälen (Offb 9,5): «Und in jenen Tagen werden die Menschen den Tod suchen und werden ihn nicht finden und werden zu sterben begehren, und der Tod flieht vor ihnen.»

Ich weiss nicht, ob es eine andere Weltreligion gibt, die einen derart fiesen Text zu ihren heiligen Schriften zählt.

Es gibt aber auch Passagen in der «Offenbarung», die wirken als habe da jemand in den Text eingegriffen und versucht, ihm eine mildere, humanere Seite zu geben. So fliegt an einer Stelle (Offb 8,13) plötzlich ein Adler hoch oben durch den Himmel und sagt mit lauter Stimme: «Wehe, wehe, wehe denen, die auf der Erde wohnen…» – ein ungewöhnlicher Moment der Anteilnahme, und ein geradezu filmischer Perspektivenwechsel. An dieser Stelle begreifen wir auch, dass die Tiere vom Weltuntergang nicht betroffen sind. Vielleicht sind sie nicht interessant genug, gequält zu werden. Oder sie sind unschuldig, unschuldige Botschafter des Verderbens wie die Pferde der Apokalypse, unschuldige Folterknechte wie die Heuschrecken.

Ungewöhnlich ist an der Stelle mit dem Adler auch, dass hier eine Natur-Beobachtung eine Rolle spielt: Adler, die hoch oben am Himmel ihre Kreise ziehen, wirken ja tatsächlich so, als würden sie ihre Eier in den Wolken legen und wären also von einer völlig verbrannten Erde auch nicht direkt betroffen. Eine solche Aufmerksamkeit für die Welt, wie sie ist, passt so gar nicht zum sonstigen Ton der «Offenbarung».

Die «Offenbarung» soll von einem Johannes geschrieben worden sein. Dieser weilte nach eigener Aussage «auf der Insel, die Patmos genannt wird, um des Wortes Gottes und des Zeugnisses Jesu willen» (Offb 1,9). Dort erhielt er von Gott den Auftrag, «seinen Knechten zu zeigen, was bald geschehen muss» (Offb 1,1). Oft wird die karge, fast gänzlich baumlose, vermeintlich leblose Landschaft der Insel für die Visionen des Johannes verantwortlich gemacht. Doch entdeckt, wer etwas Zeit an einem Ort verbringt, in der Regel nicht eher, wie sich das Leben noch unter den schwierigsten Bedingungen zu helfen weiss? Und Johannes hatte Zeit auf Patmos, so können wir annehmen, und hätte also eher über die Wunder der Natur schreiben müssen. Aber vielleicht stammt ja nur die eine Stelle mit dem Adler von dem Johannes auf Patmos – bloss wer hat dann den ganzen Rest geschrieben?

Ich.

Siehe auch

  • Ein Rezept zur Episoda: Achladakia (Mandelgebäck in Birnenform mit Orangenblütenwasser und Honig)
  • Episoda – eine Sendung für Santa Lemusa (Einführung)
  • Biographie von Peter Polter

First Publication: 8-8-2013

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