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Am frühen Morgen im Park beim Zürichhorn. (Freitag, 18. Oktober 2013)

18. Flasche

Der Märchen-Zwerg

Barbera d'Alba Giacomo Conterno Cascina Francia 2011

Von aussen riecht der Wein unbewegt nach Dörrpflaumen und frisch gewaschener Haut. Ziehe ich die Luft nur ganz sanft durch die Nase, fliegen mir reife Himbeeren entgegen. Mit der Bewegung wird die Frucht dunkler, Kirschen und Latwerge, feuchtes Fallholz und nasse Blätter. Das Erlebnis ist seltsam vertraut. Hatten wir den Wein schon im Programm? Wie ist es möglich, dass wir einen neuen Wein kosten und es kommt und vor, als hätten wir ihn gestern schon getrunken? Selbst wenn es eine Flasche wäre, mit der wir uns schon einmal beschäftigt haben, müsste das Erleben nicht trotzdem ein etwas anderes sein – einfach weil wir doch nicht mehr dieselben sind wie beim letzten Mal? Wenigstens müsste unser Tag irgendwelche Spuren hinterlassen haben, die sich auf den Gefühlen beim Trinken eine Fortsetzung suchen.

Was hat mich heute geprägt? Was waren die Höhepunkte, was die Tiefen – und was habe ich gelernt, an diesem Tag im Büro? Kann es sein, dass dies ein Tag war wie jeder andere? Ein Tag einfach, ein Tag weg? Kann es wirklich sein, dass uns heute gar nichts aufgefallen ist – nichts unser Gemüt so beschäftigt hat, dass wir uns daran erinnern wollen? Gibt der Wein deshalb für uns den Routinier?

Im Mund ist der Barbera eher trocken, kaum bitter, mit erstaunlich viel Tannin und gut verankerter Säure. Von innen strahlt er eine fröhliche Fruchtigkeit aus: Erdbeere, Himbeere, dunkle Kirsche, etwas saure Aprikose – bunt gemischt. Dann schwingt sich da plötzlich eine Salbei-Note an den Bühnenrand – es ist kein europäischer Salbei indes, sondern jene Art, die man in den kargeren Berggebieten der griechischen Inseln findet – ein säuerliches Salbei-Aroma, das gefühlsmässig zum Besuch orthodoxer Kirchen passt. Ganz neu ist der Salbei nicht im Barbera – aber immerhin, es ist eine Salvia mit kleiner Variation.

Jetzt kommt mir der Zwerg in den Sinn, der an der Tramhaltestelle stand als ich zum Einkaufen fuhr. Er fiel mir wegen der Art auf, wie er sich auf seine Krücken stützte – das hatte etwas ungemein Lässiges. Als ich nach einer halben Stunde wieder vorbei fuhr, stand er immer noch an derselben Stelle, in derselben Position. Unterdessen waren ganz bestimmt alle Linien der Strassenbahn mehrfach an ihm vorbeigerollt. Aber vielleicht wollte er ja gar kein Tram besteigen – vielleicht stand er einfach da und beobachtete die Passanten, vielleicht folgte sein Blick auch mir und er sah, dass der Büroratte ein bisschen schwindlig war wegen der plötzlichen Frischluft im Gehirn. Vielleicht wartete der Zwerg aber auch auf eine ganz spezielle Strassenbahn – auf die Zwergen-Linie zum Beispiel, in der man nur den halben Preis vom halben Preis bezahlen muss. Oder der Zwerg wartete auf das Zaubertram, aus dem eine Fee aussteigen würde, ihn mitzunehmen in ihr Reich – oder zurück in seine eigene Geschichte.

Apropos Märchen: als ich heute früh zur Arbeit radelte, lag eine tiefgraue Wolkendecke über Stadt und See. Die Sonne aber leuchtete flach unter ihr durch und liess die Kronen der Bäume in Flammen aufgehen. Zürich sah aus als würde es nur noch auf den Privat-Jet von Schneewittchen warten. Vielleicht war der Zwerg durch das Tor dieses Lichts aus seiner Märchenwelt ausgebrochen – und brauchte die Krücken nun, weil die Schwerkraft unserer Welt doch ganz andere Ansprüche an den Knochenapparat stellt, als der Stoff, der die sieben Berge am Boden hält.

Habe ich erwähnt, dass es über Nacht Herbst geworden ist? Zuvor schon zeigten einzelne Bäume eine leichte Verfärbung – aber nach dem Regen in dieser Nacht sind sie plötzlich alle in bunten Hemden aufgewacht. Und habe ich von dem Loch in meiner linken Hosentasche gesprochen? Stecke ich Münzen hinein, so rieseln sie meiner Haut entlang zu Boden – eine kleine Massage mit Moneten. Am Morgen hat sich eine alte Dame gebückt, um mir einen Franken wiederzugeben – ich fühlte mich beschämt. Habe ich von der Freundin gesprochen, die mich im Büro besucht hat, von der Entdeckung eines neuen Aromas in einem Apfel, vom Angebot einer Reise nach Andalusien, vom Wurstgeruch im Bahnhof Stadelhofen, von der Begegnung mit Anthanasius Kircher und seiner kosmischen Orgel? Wahrscheinlich könnte ich Jahre damit zubringen, all die Dinge aufzuschlüsseln, die mir an diesem einen Tag begegnet sind. Das ist unheimlich – und beruhigend zugleich.

Sicher gilt Ähnliches für diese Flasche Barbera, deren aromatische Spielereien mich wohl bis ans Ende aller Tage beschäftigen könnten. Sicher. Bei Licht besehen aber wird daraus nichts werden. Immerhin: im letzten Abgang schenkt er uns sein schönstes Lächeln.

Getrunken am Freitag, 18. Oktober 2013 in der Küche meiner Wohnung über dem Bahnhof Tiefenbrunnen in Zürich (Schweiz). Gekauft in der «Enoteca Le Torri» in Alba (€ 31.00 im Oktober 2013).

Nächste Flasche

Barbera d'Alba Giacomo Conterno Cascina Francia

Italien: DOCGDOC, 2011, 15% Vol.

100% Barbera

Rotwein aus dem Piemont (Italien), produziert von der Azienda Vitivinicola Giacomo Conterno di Giovanni Conterno in Montforte d'Alba (auf Karte anzeigen).

First Publication: 20-10-2013

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