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Wahrscheinlich ist das Leben im Grunde eine Aneinanderreihung von Seltsamkeiten. Wiederholung und daraus resultierende Gewöhnung aber stellen etwas her, das wir als Normalität bezeichnen – es ist eine Art Schleier, der den Blick dafür trübt, wie absurd die Dinge tatsächlich sind. So ist das auch in Zürich. (Samstag, 26. Oktober 2013)

21. Flasche

Bilderrätsel mit Gekröse

Barbera d'Asti Marchesi Alfieri Alfiera 2009

Von aussen riecht der Wein unbewegt nach schwarzen Kirschen und nach Karamell. Mit der Bewegung kommen eine Veilchen- und eine Eukalyptus-Note dazu. Im Hintergrund torkelt dann und wann eine Himbeere durchs Dekor. Leichte Vanille-Töne werden mit der Zeit prägnanter und lassen ab und zu von einer Idee frisch geschnittenen Lattichs umgarnen. Im Mund ist der Wein fleischig, eher süss, rund und kräftig. Von innen spielen reife schwarze Kirschen die erste Geige, am Bass sitzt ziemlich angekohlter Kuchenteig, dahinter bläst Vanille ins Fagott, dann und wann übertönt vom tiefen Horn einer malzigen Schokolade. Eine süsse Harmonie – einzig der Lattich, der ab und zu wie das Klingeling eines Triangels durch den Gaumenraum irrt, bringt eine absurde Note herein. Das Absurde passt.

Ich hätte ja auch nie gedacht, dass ich eines Tages mit 30 kg Eingeweiden auf dem Arm neben einer jungen Dame mit blonden Haaren in einem Lift stehen würde, der ins dritte Untergeschoss des Zürcher Tierspitals fährt. Schuld daran war die Post. Im Sommer hatte ich im Wallis eine munteren Bio-Bäuerin kennengelernt, die jeweils im Herbst einige ihrer Lämmer von der Alp-Weide mehr oder weniger direkt zum Schlachter führt – auf jeden Fall jene «Lämmer und Schafe, die sich für die Fleischgewinnung zur Verfügung stellen», wie sie es formuliert. Das Fleisch dieser Freiwilligen verschickt sie dann per Post an Kunden in der ganzen Schweiz. Ich handelte mit ihr aus, dass sie mir einige jener Stücke zukommen lassen sollte, die ihre anderen Kunden nicht haben wollen: Herz, Hirn und Hoden, Lunge und Leber, Milz und Nierchen, Kopf und Kutteln, Bries und Zunge. Sie sammelte, verpackte die schönen Teile einzeln in Plastik, vakuumierte das ganze Gekröse mit grosser Sorgfalt und brachte es in einer Styroporbox so frühzeitig auf die Post, dass es mich mit Garantie am nächsten Tag erreichen sollte. Allein die Post hatte andere Pläne – und also deponierte sie das Paket in einem Lager. Als es mich schliesslich mit einiger Verspätung an diesem Samstagmorgen erreichte, war die Box gebrochen, der Inhalt war warm, viele Pakete hatten ihr Vakuum verloren und in einigen hatte sich ein seltsamer Schaum gebildet. Ich schnitt einzelne Plastikbeutel auf…

30 kg Innereien vom Lamm kann man nicht einfach im Hausmüll entsorgen – zumal es in diesem Spätherbst noch einmal ordentlich warm geworden war und die Männer von der Müllabfuhr nur noch ein Mal pro Woche bei uns erscheinen. Mein Nachbar besitzt nicht nur ein benzinbetriebenes Raubtier, sondern auch ein Mass an Freundlichkeit, das ihm sicher immer wieder überraschende Abenteuer einträgt – und also bot er mir die Hilfe von Mensch und Maschine an. Ich packte die duftenden Teile in zwei Tüten und wir fuhren zur grössten Mülldeponie der Stadt, wo es auch eine Kadaversammelstelle gibt. Allein die Stelle hatte geschlossen – offenbar gehört es nicht zu den Gewohnheiten der Bürger Zürichs, am Wochenende mit Kadavern durch die Gegend zu kutschieren. Also fuhren wir zur Tierklinik der Universität – Notfallstation. Die junge Dame am Empfang wusste auch nicht sofort, was sie mit den maroden Eingeweiden einer kleinen Lämmerhorde anfangen sollte. Doch sie griff beherzt zum Telefon und fand bald heraus, dass es da im Untergeschoss einen Kühlraum mit einem Kübel gab, den auch sie noch nie gesehen hatte. Da gab es nur noch eine kleine Frage, die sie quälte: «Es ist doch nicht etwa ein Mensch – oder?». Ich zeigte ihr einen Lämmerschädel – und sie war überzeugt.

Allerdings durfte das Fleisch natürlich nicht mit der Plastikverpackung in die ewigen Kübelgründe eingehen – und also gab sie mir eine Büroschere und eine Plastikbox, die gewöhnlich für den hausinternen Posttransport verwendet wird. Auf der Herren-Toilette machte ich mich zwischen lindgrün fröhlichen Wänden daran, die Stücke aus ihren Hüllen zu schneiden. Meine Nase verhinderten jede Erinnerung daran, dass ich eigentlich in meiner Küche Grosses mit diesen Kleinigkeiten vorgehabt hatte – keine Trauer also. Meine Augen aber sahen, wie sich da zwischen meinen gespreizten Beinen ein Stillleben der besonderen Art entwickelte – und meine Ohren hörten das ohrfeigenartige Klatschen, mit dem die glatten Muskeln aufeinander trafen. Als ich zwischendurch mit Toiletten-Papier und Hand-Desinfektions-Mittel die gröbsten Blutspritzer vom Spiegel wischte, sah ich mich selbst plötzlich als Teil eines Bilder-Rätsels, dessen Lösung wohl nur eine hinlänglich absurde Behauptung sein konnte.

Mit der Zeit drückt sich bei sanftem Riechen eine warmwürzige Fenchel-Note an den reifen Kirschen vorbei. Im Abgang lässt der Barbera eine süsse Spur zurück, wie Konfitüre aus dunklen Früchten.

Getrunken am Samstag, 26. Oktober 2013 in der Küche meiner Wohnung über dem Bahnhof Tiefenbrunnen in Zürich (Schweiz). Gastgeschenk (Oktober 2013).

Nächste Flasche

Barbera d'Asti Superiore Marchesi Alfieri Alfiera

DOCG, 2009, 14-5% Vol.

100% Barbera

Rotwein aus dem Piemont (Italien), produziert von Marchesi Alfieri Societá Agricola in San Martino Alfieri (auf Karte anzeigen).

First Publication: 28-10-2013

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