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Nicht nur der Buchstabe «O» hat gelegentlich die Tendenz, zu verschwinden: Ufer des Zürichsees beim Bahnhof Tiefenbrunnen. (Montag, 17. Dezember 2013)

33. Flasche

Ziel und Schuss

Valais Pinot noir de Chalais Perec Rochat 2009

Von aussen unbewegt riecht der Wein nach Brombeeren und ein wenig nach Ziegenstall, eine Ahnung von Ammoniak. Der Eindruck verdichtet sich mit der Bewegung, wobei ich nun an einen sehr reifen Camembert denken muss. Die Frucht ist jetzt eine feste Kirsche, die sich dann und wann überlegt, ob sie nicht Erdbeere sein möchte. Auch eine Idee von auf dem Grill gebratenem Gemüse ist da, ein frisches Röstaroma. Mit der Zeit huschen Noten von schwarzen Pfeffer vorbei.

Meine Atemtherapeutin hat mich heute aufgefordert, mir ein «O» vorzustellen. Ich liess es aus der Gegend meiner Hüfte aufsteigen, es drang durch mein Zwerchfell wie durch einen Wasserspiegel und führte schliesslich zu einer ganz leichten Verschiebung der Druckverhältnisse in meinem Mund. Ich liebe den Buchstaben «O» – schon weil man ihn mit der Ziffer «0» verwechseln kann. Kein Wunder, neigt das «O» dazu, sich zu verflüchtigen. Wenn man es ausspricht, dann ist es eindeutig vorhanden – doch kaum schliesst man den Mund, ist es, als habe man das «O» verschluckt, wie ein Fisch sein Futter. Das «O» ist auch einer der raren Buchstaben, die man gelegentlich während des Einatmens ausspricht – dann nämlich, wenn einen etwas in Erstaunen versetzt. Das heisst, man spricht es aus und zieht es sogleich in sich zurück. Auch als Form ist das «O» gern von flüchtiger Natur – nehmen wir zum Beispiel die «O»'s, die sich um die Stelle bilden, an der ein Stein ins Wasser geplumpst ist. Als ich heute nach Hause radelte, hatte auch der Mond ein «O» um sich gelegt – einen runden Schimmer, der in allen Farben flimmerte, zweifellos nur ein optischer Effekt. Auch der Mond selbst ist heute Nacht ganz volles «O» – morgen schon wird ihn eine leichte «a»-Verformung zur Abnahme zwingen. Viele schöne Worte beginnen mit O: Originalität, Opposition, Oligarchie, Organisation, Orchidee, Orgasmus – alles Dinge, die keinen Bestand haben. Gleichzeitig ist das «O» auch der Buchstabe der Konzentration, und der Öffnung, und der Wiederholung – ein Buchstabe auch, der sich nicht aus dem Lot bringen lässt: Wie auch immer man das «O» dreht, es bleibt ein «O», allenfalls mit leichter Quetschung. Der Buchstabe hat also weder ein Oben noch ein Unten, er steht weder eindeutig richtig, noch eindeutig falsch da. Der Ordnungssinn der Griechen hatte zwar versucht, das «O» auf ein paar Füsse zu stellen, ihm eine klare Ausrichtung zu geben – doch kaum hatten die Hellenen ihre letzten Verse ins römische Reich gehaucht, sprang das Omega einer Balletteuse gleich auf, und klappte seine Füsschen wieder zur Rundform ein. So ist das «O» also gleichermassen ein Symbol des Verschwindens und ein Symbol der Präsenz, es ist Loch und Hülle zugleich, Ziel und Schuss, unendliche Ausdehnung und Moment, das Yin und Yang unseres Alphabets.

Im Mund wirkt der Wein dünn, eher sauer und ein wenig bitter. Er hat einiges Tannin. Von innen rieche ich Zwetschge, die im Ofen auf einem Kuchen stark eingetrocknet ist. Dazu kommt eine markant blumige Note, fast als habe man ein Damenparfum im Mund – ist es Veilchen? Auch etwas angekohltes Leder wird durch die Luft geschwenkt. Dieser Pinot noir ist kein Schmeichler, er hat etwas Böses, der Gaumen ringt mit ihm.

Getrunken am Montag, 16. Dezember 2013 im Wasserzimmer meiner Wohnung über dem Bahnhof Tiefenbrunnen in Zürich (Schweiz). Gekauft bei «Provins Valais» in Sion (Fr. 21.90 im Oktober 2013).

Nächste Flasche

Valais Pinot noir de Chalais Domaine du Perec Rochat Sélection

AOC, 2009, 13.5% Vol.

100% Pinot noir

Rotwein aus dem Wallis (Schweiz), produziert von Provins Valais in Chalais (auf Karte anzeigen) und Sion. Vinifié et élevé par Madeleine Gay.

First Publication: 17-12-2013

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