Kalbskopf

Im Jahr 1640 malte der Elsässer Sébastien Stoskopff eine «Nature morte à la tête de veau», die heute im Saarland-Museum in Saarbrücken hängt. Wie stets in seinen Stillleben sind nur relativ wenige Dinge versammelt. Von links fällt Tageslicht durch ein Fenster ins Bild. Es bricht sich rechts auf der golden glänzenden Innenseite eines grossen, zur Seite gekippten Kupferkessels, der wie ein Spiegel wirkt und es dem Maler gestattet, die Dinge plastisch zu modellieren – und dabei doch in ein klares, fast schattenfreies Licht zu setzen. Strahlender Mittelpunkt der Komposition ist der Kopf eines Kalbs, dem man bereits das Fell von der Haut geschabt hat – die rötlichen Muskelfasern, das weissliche Bindegewebe und das gelbliche Fett, alles ist mit grösstem Realismus wiedergegeben. Um den Kopf in die rechte Lage zu bringen, hat der Maler einiges unternommen: Zunächst hat er einen flachen Zuber auf den Tisch gewuchtet, darüber ein Brett gelegt, darauf einen Teller gestellt, und den Boden des Tellers dann nochmals mit einem runden Brett erhöht. So blickt sich das Kalb jetzt mit seinen tiefschwarzen Augen in dem kupfernen Spiegel an. Die Augen des toten Tiers glänzen noch so lebendig, dass sich die Welt in ihnen reflektiert. Um zu verdeutlichen, was sich in ihnen spiegelt, hat Stoskopff eine kugelrunde Flasche über dem Kopf des Tiers in Position gebracht – sozusagen als Vergrösserung des Auges. Darin sehen wir ein Fenster und das Licht auf der gegenüberliegenden Wand – der Raum dazwischen aber ist dunkel und leer. Der Maler hat sich also aus dem Bild genommen – und damit gewissermassen auch den Betrachter ausgelöscht, dessen Blick er ja vertritt.

Man kann kein Fleisch essen und an die Unsterblichkeit glauben – auch an die eigene nicht. Wenn wir Teile vom Kopf eines Tieres verzehren, dann gilt dies vielleicht in besonderem Mass. Das Hirn ist eine ziemlich abstrakte Masse, die Zunge beschäftigt uns schon etwas mehr – auf ganz eigentümliche Weise aber berührt es uns, die Gesichtshaut eines Tiers zu essen. Maske nennen die Metzer dieses mitsamt der Haut als Ganzes vom Schädel gelöste Stück – und das mit gutem Grund. Vor uns auf dem Küchentisch sieht das Teil nämlich aus wie eine abgelegte Larve, eine Hülle ohne Inhalt – faltig und kraftlos in sich zusammengesunken, ein eingefallenes Gesicht, das nicht mehr grinsen, das gar nichts mehr ausdrücken kann. Der Begriff Maske verschleiert allerdings, dass es sich eben nicht um die Maske eines Lebewesens handelt, sondern um sein wahres Gesicht – krude auf sein Material reduziert: Haut, Muskelfasern, Bindegewebe und ein wenig Fett. In der Küche heisst diese Maske denn auch schlicht Kalbskopf, Tête de veau.

Einmal gekocht, lange gekocht, ist das Fleisch dieser Maske unendlich zart und feucht – eine überschwängliche Delikatesse, eine in den Mund hinein schmelzende Übertreibung. Denn im Verlauf des Kochprozesses verwandelt sich die wenige Millimeter dünne und ziemlich harte Haut in eine mehr als daumenbreite, gelatinöse Schicht von gräulich milchiger Farbe und seidenzarter Beschaffenheit. Umgeben von Hitze und Feuchtigkeit plustert sich das Kalbsleder auf, saugt es sich voll, um endlich so rund und prall zu werden, dass Botox-Lippen daneben wie abgeschlaffte Luftballons aussehen. Diese gelatinöse Schicht, die den Hauptteil der Tête de veau ausmacht, fühlt sich zwischen den Zähnen zunächst an wie Fett – doch die Masse hat auf eigene Weise Textur, Struktur und Kraft. Die Konsistenz erinnert auch an die klebrig-schleimigen Partien des Kalbsfusses. Doch während man sich da den Stoff von den Knochen und hernach von den eigenen Fingern lecken, sich sein Vergnügen also erarbeiten muss, liegt ein ganz ähnlich strukturiertes Gewebe beim Kalbskopf in Massen vor – und kann elegant mit Messer und Gabel verzehrt werden.  Für Menschen, die sich von ausserordentlichen Konsistenzen begeistern lassen, ist der Kalbskopf der absolute Höhepunkt – kein noch so edel verschimmeltes Filet kann es mit ihm aufnehmen. Kein Wunder, schwebt der Gedanke an Bestrafung über dem Haupt all jener, die sich diesem unverschämten Genuss hingeben (auf jeden Fall, wenn es sich um Protestanten handelt). Bei Stosskopf hat sich die Tête de veau denn ja auch bereits gerächt. Zwar mag das Tier tot sein – sein Auge aber hat uns aus dem Raum hinaus geblickt, hat uns ins Nichts hinein gestarrt.