Newsletter abonnieren

RSS-Feed abonnieren

Alsace Riesling Léon Boesch Luss 2012

Von aussen unbewegt riecht der Wein sehr rein, nach Stein und Frucht. Mit der Bewegung nimmt beides zu. Es ist als hätte man kalte Milch über einen leicht windwarmen Schiefer gegossen. Die Frucht ist eine exotische und sehr verführerische Kreuzung aus Quitte und Pampelmuse. Im Mund ist der Wein eher säuerlich, trocken und leicht – man denkt eher an Essig denn an Zitrone. Von innen fehlen Frucht wie Stein, der Wein wirkt ein wenig verschlossen. Mit der Zeit ist da eine leicht bittere Pampelmuse, vielleicht auch nur der weisse Pelz, der auf der Frucht klebt.

Während ich heute bei meiner Mutter sass, begann die Abendsonne die grossen Bäume im Garten des Spitals zu verwandeln. Ganz allmählich löste sich das Innere der Kronen aus dem Schatten, in dem es sich den ganzen Tag lang vor der Sonne verborgen hatte: Äste wurden sichtbar, Stämme und knorrige Verkropfungen. Einen Moment lang schien es, als leuchte die Sonne vom Boden her in das Laubwerk hinein, das plötzlich so scharf gezeichnet schien als wolle jedes Blatt einzeln wahrgenommen werden. Ich weiss nicht, ob meine Mutter diese Veränderungen wahrnahm. Sie schaute nicht nach draussen, sie blickte auch mich nicht an. Ich weiss nicht, wo sie war, sie gähnte zwei oder drei Mal – sie schien müde ohne müde zu wirken. «Ich wünsche mir einfach, dass es weitergeht», sagte sie kurz bevor ich ging – aber sie sagte es mehr zu sich als zu mir. Als ich an der Tür stand, drehte sie den Kopf leicht in meine Richtung, aber ihre Augen folgten mir nicht. Wie ein horizontaler Balken war der Schatten allmählich die Bäume hochgerutscht – jetzt stand nur noch die Spitze der höchsten Krone im Sonnenlicht.

Auch wenn ich den Riesling lange kaue, bringe ich keine zusätzlichen Aromen aus ihm heraus, bleibt meinem Mund verschlossen, was meine Nase doch riecht.

Getrunken am Montag, 18. August 2014 in der Küche meiner Wohnung über dem Bahnhof Tiefenbrunnen in Zürich (Schweiz). Gekauft bei «Au Monde du Vin» in Saint-Louis (€ 10.80 im Juni 2014).

Nächste Flasche

© HOIO 2015 – powered by xcult.ch – kept in form by e-hist – triggered by activerat