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Sonntagsbraten

Gallarate (Italy) Piazza della Libertà
Nahe beim Brunnen
Sonntag, 22. Februar 2015

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Die Kirche ist aus. Die Frauen sind offenbar nach Hause geeilt, dem Sonntagsbraten den letzten Schliff zu geben. Die Männer bilden Gruppen auf dem Kopfsteinpflaster, Einzelne sind in ihre Zeitung vertieft, studieren die jüngsten Skandale in der «Repubblica» oder den besten Kick in der rosaroten «Gazzetta dello sport». Alle nehmen sich mit völliger Selbstverständlichkeit gegenseitig zur Kenntnis, als sei jeder mit jedem bekannt, ein bisschen wenigstens. Sogar die Polizisten grüssen aus dem Fenster ihres Wagens. Der Platz kommt mir vor wie ein Salon, in dem man sich wie selbstverständlich trifft, weil man ja im selben Hause wohnt.

Und alles wirkt, als sei es hier seit fernen Zeiten so. Ich kneifen die Augen ein wenig zu und sofort erscheinen mir die Menschen auf dem Platz wie ein Fluss zurück in die Geschichte und zugleich aus ihr heraus. Ich sehe sie in mittelalterlichen Kleidern aus dem romanischen Kirchlein strömen, dem die Stadtverwaltung jetzt ein blinkendes Karussell zur Seite gestellt hat. Ich höre die Händler, die hier lauthals ihre Würste und ihren wurmstichigen Käse anpreisen. Tomaten und Kartoffeln werden noch keine verkauft, denn Columbus ist noch nicht geboren, Wirsing, Cicorino und die spitze Winterartischocke aber sind im Angebot. Ich rieche den Mist der Esel und den Rauch der Öfen aus der nahen Bäckerei – und spüre die Erschütterung der Pferdewagen, die Holz durch die Strassen karren. Nun sehe ich sehe die Männer in Wams und Schaube der Renaissance, dann füllt sich der Platz mit den Schlapphüten der Barockzeiten, die den schlichteren Schnitten des 19. Jahrhunderts weichen. Ich sehe, wie die Faschisten in ihren schwarzen Uniformen zwischen den grauen Sonntagskleidern hindurch marschieren, dann geht erstmals einer heftig gestikulierend mit einem Mobiltelefon an mir vorbei. Gesichter kommen neu dazu, andere sind plötzlich nicht mehr da. «Non è la vita anche come una piazza», fragt Domenica di Sanpietro, «ein Platz, auf dem man sich mit anderen vergnügt oder über die Welt ärgert – als wäre man hier für immer zu Hause. Als wäre man.»

Die Piazza als Memento Mori. Ich glaube, dass ich das ständig so empfinden würde, wenn auch ich hier meinen Platz hätte. Aber vielleicht spüren das ja auch die Männer, die hier stehen. Und entweder es tröstet sie, was der Priester in der Kirche gesagt hat – oder aber die Aussicht auf den Sonntagsbraten.

Siehe auch

First Publication: 26-2-2015

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