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Nein, meine Mutter sass nicht im Badeanzug vor der Tür ihres Hauses in Riehen. (Mittwoch, 21. Januar 2015)

81. Flasche

Im Badeanzug vor der Tür

Alsace Riesling Léon Boesch Grand Cru Zinnkoepfle 2012

Von aussen unbewegt riecht der Wein nach einem Feuerwerkskörper, der in eine unreife Melone geschossen wurde – und in ihrem Fleisch erkaltet ist. Mit der Bewegung kommt eine mineralische Frisch auf, wie sie die Luft nach einem heftigen Gewitter haben kann – nur ganz fein indes, denn der Riesling hält sich eher zurück. Im Mund ist der Wein eher säuerlich, mit süsslichen Einsprengseln und einer gewissen Bitterkeit. Von innen dominiert zunächst ein säuerlich-bittere Grapefruit, wie es sie heute kaum mehr gibt, da die Pampelmusen fast durchgehend in Richtung Süsse gezüchtet wurden – dazu passt eine leichte Adstringenz. Auch der weisse Pelz, der auf dem Fruchtfleisch von Agrumen sitzt, ist mit von der Partie.

Während ich heute nach Riehen hinaus fuhr, zu meiner Mutter, liess sich der Tag gerade völlig undramatisch in die Nacht hinein plumpsen. Und als ich nur noch etwa zwanzig Meter von meinem Elternhaus entfernt war, spielte mir das Dämmerlicht einen eigentümlichen Streich: Ich sah meine Mutter, die vor dem Haus auf der Treppe sass, in einem sandfarbenen Badeanzug. Natürlich erkannte ich Sekunden später, dass es wie immer die Figur von Seneca war, die den Hauseingang bewachte, und doch hatte mich das Trugbild bereits erheitert. Als ich in das Schlafzimmer trat, wo meine Mutter wie üblich in den letzten Wochen, umringt von Büchern, Zeitungen, Agenden, Blumen, Briefen, Fotos und zahllosen Getränken in ihrem Bett vor sich hin dämmerte, hätte ich ihr gerne von meiner Begegnung vor der Tür erzählt. Doch sie kam mir zuvor mit dem Satz: «Ich bin so müde, ich schlafe die ganze Zeit». Ich fragte sie, ob sie träume – und malte mir einen kühnen Moment lang aus, dass sie mir nun gleich erzählen würde, wie sie im Traum ihren Badeanzug angezogen habe und in den Garten gegangen sei. «Aber nein», sagte sie: «Ich träume nie.» «Wirklich nie?», fragte ich. Sie zog die Unterlippe ein wenig zwischen die Zähne und überlegte kurz: «Nein, kein bisschen.»
«Das ist aber schade, wo du doch so viel schläfst.»
«Nun, ich kann mich ja nicht zwingen.»
«Nein, das kann man nicht.»

Auf dem Rückweg in Richtung Zürich fragte ich mich, was wohl grausamer sei: Schöne Träume zu haben und dann in eine Realität voller Beklemmung hinein zu erwachen – oder gar nicht zu träumen? Zugleich fühlte ich auf ganz eigentümliche Weise eine gewisse Erleichterung in mir, eine Heiterkeit fast – und ich wusste, dass sie nur daher rühren konnte, dass ich meine Mutter im Badeanzug vor der Tür gesehen hatte.

Mit der Zeit gesellt sich ein Aroma dazu, das an Traubenzucker mit Orangenflavour denken lässt – auch etwas leicht Medizinisches ist präsent. Und der Wein perlt ein wenig auf der Zunge. Insgesamt fühle ich mich von dem Riesling ein wenig zurückgewiesen – ganz als werfe er mir vor, dass ich ihn vor seiner Zeit aus der Flasche gerissen habe.

Getrunken am Mittwoch, 21. Januar 2015 in der Küche meiner Wohnung über dem Bahnhof Tiefenbrunnen in Zürich (Schweiz). Gekauft bei «Au Monde du Vin» in Saint-Louis (€ 17.60 im Oktober 2014).

Nächste Flasche

Alsace Riesling Domaine Léon Boesch Grand Cru Zinnkoepfle 

AOC, 2012, 13.5% Vol.

100% Riesling

Weisswein aus dem Elsass (Frankreich), produziert von Colette, Gerard, Marie et Matthieu Boesch in Westhalten (auf Karte anzeigen). Vin biologique, Demeter.

First Publication: 30-11-2014

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