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Meist brennt im Haus meiner Eltern in Riehen nur wenig Licht – heute aber waren die Fenster hell erleuchtet. Seltsam nur, dass das Foto, das ich mit meinem Mobiltelephon aufnahm, aussah wie eine grobstrichige Malerei. (Mittwoch, 4. Februar 2015)

84. Flasche

Ich schau dann, wie du schläfst

Alsace Riesling Trimbach Vielles Vignes 2009

Von aussen unbewegt riecht der Wein nach einem frisch aufgewischten Kalksteinboden – das Wischwasser war mit einer exotischen Frucht parfümiert, ich glaube mit Passionsfrucht. Die Bewegung verstärkt die kalkigen Aromen, leichte Javelwasser-Anklänge – und etwas Pfirsich, aber nicht ganz reif. Im Mund ist der Wein nur ganz leicht süsslich mit pikanter, leicht perlender Säure. Der Riesling bleibt am Gaumen etwas hinter dem zurück, was er dem Mund verspricht – aber vielleicht sind auch einfach nur die Schleimhäute zu sehr mit der etwas aggressiv wirkenden Säure beschäftigt. Das Steinige und Mineralische dominiert – Frucht ist da kaum auszumachen. So hat er auch fast etwas leicht Adstringierendes.

Ich war gerade in meinem Fitnessstudio als die Externen Spitaldienste aus Riehen anriefen. Der Zustand meiner Mutter habe sich rapide verschlechtert, sie wünsche mich noch einmal zu sehen. Ich nahm den nächsten Zug in Richtung Basel. Ein Teil von mir war völlig durcheinander – ein anderer reagierte fast instinkthaft auf die Rhythmen und Impulse eines ganz gewöhnlichen Tages. Ich spürte den Drang, an einem begonnen Text über ein Museum im Wallis weiter zu schreiben. In der Bahn hatte ich Lust, eines meiner PDF-Kochbücher zu studieren oder die Fotos von Rosenkohl unter Schnee auszusortieren, die ich vor zwei Tagen im Botanischen Garten von Zürich aufgenommen hatte. Und ich freute mich auch schon auf mein erstes Glas Wein am Abend.

Ich konnte nicht glauben, dass meine Mutter tatsächlich sterben würde. Und doch wusste ich, dass es durchaus möglich war, denn in den letzten Tagen und Wochen war sie zunehmen schwächer geworden, verwirrter auch. Es war ein seltsames Gefühl, an einen Ort zu fahren, um jemanden sterben zu sehen. Ich war noch nie dabei, als jemand seinen letzten Atemzug tat – immer nur fast. Meine Grossmutter stellte sich in ihren letzten Stunden vor, sie sässe mit Kindern und Enkelkindern beim Kaffee, vielleicht im Garten ihres Ferienhauses in Lungern. Ich wünschte ihr, dass es Sommer sei – ein warmer Nachmittag mit einem freundlichen Lüftchen, das Tischtuch und Servietten leicht in Bewegung hält. Oma fragte alle, die um ihr Bett herum sassen, ob sie auch genug Kaffee hätten, ob die Milch noch warm sei oder ob sie noch ein Stück Gugelhupf wollten. Ich wünschte meiner Mutter, dass sie mit einem ähnlich friedlichen Bild aus dieser Welt würde scheiden können. Doch was, wenn sie ganz da war? Bei vollem Bewusstsein und voller Angst? Wie fürchterlich mochte sie sich fühlen? Wie würde ich sie trösten können? Ein Song von Cole Porter kam mir in den Sinn, den ich früher oft gehört hatte, gesungen von Ella Fitzgerald: «Birds do it, bees do it – Even educated fleas do it – Let's do it, let's fall in love». Auch das Sterben ist etwas, das alle tun, die erzogenen Flöhe wahrscheinlich zuallererst. Aber konnte der Hinweis auf die Gesetzmässigkeiten der Natur ein Trost sein – würde ich mich in dieser Situation davon trösten lassen?

Als ich in Riehen anlangte, stellte ich mit Erleichterung fest, dass auch meine Brüder im Haus waren. Ein Satz von Tim Leary kam mir in den Sinn, den er wenige Wochen vor seinem Tod formuliert haben soll: «Das Leben ist ein Mannschaftssport – das Sterben auch». Ob wir in unserer Familie eine Mannschaft waren oder gar sind? Mann-schaft?

Ich fand meine Mutter verwirrt jedoch erstaunlich entspannt, fast wirkte sie fröhlich – und sie hatte offenbar Lust zu lachen. Seltsamerweise war es ausgerechnet diese Fröhlichkeit, die mir kurz die Tränen in die Augen trieb. Es war mir, als verbinde sich mit ihr etwas Reines, etwas Absichts- und Zielloses, das ich so von meiner Mutter nicht kannte.
«Schlaf dann auch gut», sagte sie zu mir.
«Ich komm später nochmals vorbei.»
«Dann schlafe ich wohl schon.»
«Das macht nichts. Ich schau dann einfach, wie du schläfst.»

Erst später, auf der Rückfahrt nach Zürich, heulte ich los. Aber es war nicht der bevorstehende Tod meiner Erzeigerin, der mir die Tränen in die Augen trieb. Ich wurde mir bewusst, was die heitere Verwirrtheit meiner Mutter bewirkte: Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich nicht das Gefühl, sie sei dabei mich zu gestalten, mir eine Rolle aufzuzwingen in der fragilen Konstruktion ihrer heilen Welt. Gleichzeitig hatte ich den völlig wahnsinnigen Eindruck, dass es ihr auf eine bestimmte Art und Weise endlich richtig wohl war. Und plötzlich konnte da ein Gefühl in mir hochsteigen, das ich so nicht kannte – ein Gefühl von Geborgenheit. Ich spürte den Wunsch in mir, mich an diesen Menschen zu drücken, an dieses Wesen mit all seinen tropfenden Schläuchen, an diesen klapperdürren, völlig ausgezehrten Körper. Meine Mutter liegt im Sterben und ich fühle mich bei ihr geborgen. Was für ein Glück. Was für ein Unglück.

Mit der Zeit kaut der Mund eine Grapefruit-Spur aus den Tiefen des Steins – aber es ist eine fossile Pampelmuse. Lässt man den Wein etwas wärmer werden, stösst der Geologe auch auf Noten von nicht ganz durchgereiften Aprikosen.

Getrunken am Mittwoch, 4. Februar 2015 in der Küche meiner Wohnung über dem Bahnhof Tiefenbrunnen in Zürich (Schweiz). Gekauft bei «Boutique Clos 3/4» in Mulhouse (€ 19.00 im August 2014).

Nächste Flasche

Alsace Riesling Trimbach Sélection de Vielles Vignes

AOC, 2009, 13.5% Vol.

100% Riesling

Weisswein aus dem Elsass (Frankreich), produziert von F.E. Trimbach in Ribeauvillé (auf Karte anzeigen).

First Publication: 5-2-2015

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