D | E  

Neuste Beiträge

HOIO und Cookuk

  • Das Tagebuch von Raum Nummer 8 (Susanne Vögeli und Jules Rifke)
  • HOIO-Rezepte in der Kochschule – das andere Tagebuch

Etwas ältere Beiträge

Grosse Projekte

Mundstücke

Gewürze aus Santa Lemusa

Abkürzungen

In Riehen: Ich streichle die Hand meiner Mutter – aber ich habe nicht das Gefühl, dass sie meine Berührung spürt. (Montag, 9. Februar 2015)

85. Flasche

«Wenigstens ist das Wetter schön»

Alsace Riesling Muré Côte de Rouffach 2011

Von aussen unbewegt riecht der Wein nach Steinboden und entfernt nach nicht ganz reifer Aprikose – oder nach Melone mit ein paar Tropfen Limette drauf. Mit der Bewegung spielt sich eine helle Ananas-Note an den Bühnenrand, sekundiert vom Duft einer Kreidetafel und einer Idee frischen Rosmarins. Im Mund ist der Wein zitronig, eher süss, gut strukturiert mit feiner Säure. Von innen rieche ich Kuchenteig, Ananas und reife Pfirsiche.

Ich habe immer darauf vertraut, dass der Mensch am Ende seines Lebens in einen Zustand hinein gerät, der ihn ohne zu hadern sterben lässt. Das Leben hat dem Menschen ein Bewusstsein gegeben – aber hat es ihm denn nicht auch irgendetwas mit an Bord gegeben, dass es ihm gestattet, sich ohne Angst und Schrecken auch wieder im grossen Kreislauf aufzulösen? So wie das Schmetterlinge tun, Esel, Wale, Sterne?

Die letzten Gespräche mit meiner Mutter am Donnerstag, Freitag und Samstag haben mich deprimiert. Und ich weiss nicht, ob sie mich am Sonntag noch erkannt hat, als sie meinte, ich hätte immer so ein «böses Maul» und ich solle jetzt «keine Sprüche machen».

Als ich am Samstag an ihrem Bett sass, zusammen mit meinem jüngsten Bruder, starrte sie an die Decke und fuhr sich dabei wieder und wieder mit den Fingern über die ausgedörrten Lippen und Zähne. «Es ist ganz, ganz schlimm», sagte sie langsam. «Was denn?», fragte ich. «Der Tod. Der Tod ist gar nicht schön. Da ist nichts blumenhaft Schönes.» Ihre Hände deuteten eine Geste an, einen Blumenstrauss vielleicht. «Es gibt keine Erlösung. Und Durst hat man, immer so einen wahnsinnigen Durst.» Sie schaute aus dem Fenster, draussen schien die Sonne in den vor Kälte erstarrten Garten meines Elternhauses: «Wenigstens ist das Wetter schön.»

Am Vortag hatte sie mich in ein Gespräch verwickelt, bei dem ich erst gar nicht verstand, worum es ihr ging.
«Das ist doch wahr, was man auf den Bilden sieht?»
«Ja, warum soll es nicht wahr sein?»
«Weil man halt das manchmal so sagt, dass das nicht wahr ist.»
«Welche Bilder meinst du denn?»
«So die in den italienischen Museen.»
Erst jetzt begriff ich, dass mich meine Mutter eigentlich fragen wollte, ob es einen Gott gäbe, ein Leben nach dem Tod, Heilige, ein Paradies. Ich weiss nicht, ob meine Mutter an Gott glaubte als sie noch gesund war – ich denke, sie hat die Existenz einer «höheren Macht» einfach nicht gänzlich ausgeschlossen. Vielleicht hat sie die Frage beschäftigt, wenn sie mit meinem Vater die italienischen Bildergalerien besuchte. Und offenbar haben die Gemälde der Alten Meister eine so tiefe Spur in ihr hinterlassen, dass sie sich jetzt wieder daran erinnerte.

Heute konnte ich kaum verstehen, was sie sagte. Sie machte Gesten mit ihren Händen, wie wenn sie ihre Rede unterstützen wollte – und zuckte dann und wann mit den Schultern als wolle sie sagen: «Ist mir doch egal». Ab und zu versuchte sie, sich aufzurichten – doch sie ist längst zu schwach dazu. «Ich bekomme es einfach nicht auf», sagte sie, «aber vielleicht kommt es ja wieder».

Es schien an dem Ort, wo sie war, nichts Linderndes, nichts Friedliches, nichts Schönes zu geben. Sollte der einzige Trost, den der Mensch im Angesicht des Todes empfinden kann, Karl Valentins Diktum sein, dass immer nur die anderen sterben?

Mit der Zeit wird der Wein etwas süsser und fruchtiger, treten die Stein- und Kreidenoten in den Hintergrund.

Getrunken am Montag, 9. Februar 2015 in der Küche meiner Wohnung über dem Bahnhof Tiefenbrunnen in Zürich (Schweiz). Gekauft bei «E. Leclerc» in Saint-Louis (€ 16.69 im Dezember 2014).

Nächste Flasche

Alsace Riesling Muré Côte de Rouffach

AOC, 2011, 13% Vol.

100% Riesling

Weisswein aus dem Elsass (Frankreich), produziert von Véronique & Thomas Muré in Rouffach (auf Karte anzeigen).

First Publication: 30-10-2014

Modifications: