88. Flasche
Alsace Riesling Hartweg Grand Cru Mandelberg 2006
Von aussen unbewegt riecht der Wein nach einem frischen Brot mit Nüssen. Mit der Bewegung tritt eine reife Netzmelone auf, dazu etwas feuchte Kreide, lieblich, eher warm als kühl. Im Mund ist der Wein sehr süss, fast ohne Säure, klebrig. Von innen rieche ich Bittermandeln, Basler Leckerli, Honig. Die für Riesling sonst typische, steinige Frische fehlt diesem Wein.
Vorgestern haben wir im kleinsten Kreis (aber auf Wunsch von Papa wieder mit Pfarrer, Gedichten und Vaterunser) auf dem Riehener Friedhof die Urne meiner Mutter in ein Erdloch versenkt. Nur die engste Familie und ihre besten Freundinnen waren eingeladen. Nach dem Akt gingen wir auf einen Kaffee in mein Elternhaus – Papa hat die Reste von Kuchen, Terrine und Blätterteiggebäck aufgetragen, die nach dem Leichenmal am Tag der Abdankung übrig geblieben sind. Das war vor mehr als zwei Wochen. Übertrieben feierlich kam mir das nicht vor – doch vielleicht war das bloss unbeholfen.
Nichts mit Unbeholfenheit zu tun aber hat die Wut, mit der mein Vater in seinem Haus aufräumt. Drei Wochen nach dem Tod meiner Mutter ist es kaum wiederzuerkennen. Im Wohnzimmer sind die Möbel neu angeordnet oder vielmehr einfach den Wänden entlang aufgereiht. Die Sammlung von eigenen Kochrezepten, die meine Mutter in einer Archivbox in der Küche aufbewahrte, sie ist von ihrem Ort verschwunden, entsorgt höchstwahrscheinlich. Es kommt mir vor, als müsse er demonstrieren, wie sehr dies zuvor nicht sein Haus war und auch nicht sein Leben. Die Wut ist indes keine offensichtliche Wut, sie äussert sich vielmehr in der Kälte, mit der er alles zum «technischen Problem» deklariert – etwa die Frage, wie er das Lieblingsgeschirr meiner Mutter möglichst schnell loswerden kann. Das halbe Jahrhundert, das er mit Mama zusammen gelebt hat, es erscheint wie eine endlich überwundene Krankheit, deren letzte Spuren es nun auszuräuchern gilt.
Ich möchte lieber nicht, dass diese Wut mich etwas angeht – und doch beschäftigt sie mich, kriecht sie mir nach. Ich habe das Gefühl, einem Akt beizuwohnen, in dessen Brutalität ich mich nur mit meiner eigenen Wut zurechtfinden könnte. Aber wo hat meine Wut jetzt ihren Platz. Trotzdem: Ich wünsche meinem Vater und ich wünsche mir, dass ihm der Aufbruch gelingt.
Mit der Zeit entwickelt der Riesling eine Note von sehr reifer Birne und Pfirsich-Kompott. Das Mandelgebäck aber bleibt auch im Abgang dominant – oder sind wir da bloss dem Namen des Bergs auf den Leim gegangen? Unzweifelhaft aber ist der Wein süss, beim zweiten Glas nahezu so süss, dass man sich nach Eiswürfeln sehnt. Er nimmt mir den Appetit und sogar die Lust auuf Wein. Im Nachklang huscht Hustensirup durch den Mund.
Getrunken am Sonntag, 8. März 2015 in der Küche meiner Wohnung über dem Bahnhof Tiefenbrunnen in Zürich (Schweiz). Gekauft bei «E. Leclerc» in Saint-Louis (€ 16.53 im Dezember 2014).
Alsace Riesling Hartweg Grand Cru Mandelberg
AOC, 2006, 14% Vol.
100% Riesling
Weisswein aus dem Elsass (Frankreich), produziert von JP & Frank Hartweg in Beblenheim (auf Karte anzeigen).
First Publication: 8-3-2015
Modifications: