A350 (Kazakhstan) Janaozen – südlicher Teil des Dorfes (Karte)
Freitag, 3. Juli 2015
Eine Frau kommt auf mich zu. Sie ist gut dreissig Jahre alt, gut hundert Kilo schwer und trägt eine weisse Bluse mit Spitzen. Sie spricht mich an, ich kann ihre Worte nicht verstehen – die Falten auf ihrem verschwitzten Gesicht aber schon: «Was machst du da?» Was würde ich ihr sagen, wenn ich Russisch sprechen könnte? Warum fotografiere ich Kälber, die an einer ausgedienten Tankstelle stehen? Weil mir das Bild wie aus einem Mad-Max-Film vorkommt? Weil ich noch nie eine solche запра́вка gesehen habe? Weil mich die Szene an den Stall von Bethlehem erinnert und ich mir die Krippe mit dem Jesuskind neben der Zapfsäule vorstelle? Weil mich die Vorstellung erheitert, dass aus dem rostigen Hahn Spiritus sanctus tropfen könnte? Weil mir die träge Selbstverständlichkeit der Kälber so gut zu diesem Ort erloschener Mobilität zu passen scheint? Weil es mich amüsiert, die Begriffe «Mästen» und «Auftanken» gegeneinander abzuwägen? Gäbe es eine Antwort, die sie nachvollziehen könnte? Ich kann kein Russisch. Sie zuckt die Schultern. Wir lächeln beide. Sie geht davon. Keine Sprache zu haben, kann auch eine Freiheit sein. Aber ist es die Freiheit des Fremden, des Narren – oder die des Kalbs, das nicht zu erklären braucht, warum es an einer Tankstelle steht.
First Publication: 27-7-2015
Modifications: