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Ich betrachtete diese Info-Tafel in der Seilbahnstation Bettmeralp mit nostalgischer Faszination – dann kam mir Prousts Dilemma in den Sinn. (Sonntag, 16. August 2015)

93. Flasche

Hier Druck – da Licht

Alsace Riesling Weinbach Clos des Capucins 2009

Von aussen unbewegt riecht der Wein nach kaltem Steinboden und Petroleum – dahinter baut sich ein exotisches Fruchtaroma auf, wie es gewissen Kinder-Bonbons eigen ist. Mit der Bewegung schiebt sich kühler Traubenzucker in den Vordergrund, doch liegt er auf einem benzingetränkten Lappen. Im Mund ist der Wein säuerlich und süsslich zu etwa gleichen Teilen, wobei sich beim Kauen die Säure in der Vordergrund schiebt, derweilen im Abgang eher die Süsse am Gaumen haftet. Von innen riecht der Riesling nach Melone und Ananas, daneben rattert ein alter Benzinmotor. Könnte da auch fermentiertes Tofu sein?

Beim Warten auf die Seilbahn, die mich von der Bettmeralp ins Tal bringen sollte, habe ich mir heute mit einer gewissen nostalgischen Faszination einen jener Leuchtkästen angeschaut, die es in Zeiten vor Internet, Mobiltelephon, Google-Karten und GPS an vielen touristischen Orten gab: eine Liste von Hotels, Restaurants und anderen Adressen, deren genaue Lage sich der Tourist per Knopfdruck auf einer Karte in Gestalt eines aufleuchtenden Lämpchens anzeigen lassen kann – dazu ein Telefon, mit dessen Hilfe er sich zum Beispiel ein Zimmer in einem dieser Hotels reservieren könnte. Das Ding hat mich spontan an Prousts «unumstössliches Gesetz» erinnert, gemäss dem man sich nur vorstellen kann, was abwesend ist. Proust beklagt sich ja da und dort (etwa im dritten Kapitel von «Le temps retrouvé»), wie enttäuschend die Realität für ihn sei, weil es ihm nicht gelinge, seine Vorstellungskraft, «le seul organe pour jouir de la beauté», mit ihr zu verbinden.

Ich verstehe Prousts Problem so, dass es ihm einfach nicht gelingen will, in der Gegenwart zu leben, im Hier und Jetzt. Das deutsche Wort «Gegenwart» bedeutet ja zugleich die Anwesenheit von etwas wie auch das Hier und Jetzt, die Präsenz, das Vorhandensein im Moment. Ich selbst habe oft das Gefühl, dass ich nicht so recht im Präsens lebe – bewusst zumindest nicht. Weil ich mit dem, was gerade da ist, im Moment selbst eigentümlich unverbunden bin – also wohl weil sich auch meine Vorstellungskraft nicht mit dieser Realität verbinden kann. Manchmal allerdings passiert es mir, dass ich die Abwesenheit von etwas oder jemandem antizipiere, was dazu führt, dass ich im Moment selbst ein Gefühl von Wertschätzung für eine Sache oder ein Gefühl von grosser Zärtlichkeit für eine Person entwickle. Dieses Gefühl ist mit Schönheit verbunden, aber auch mit Traurigkeit. Vielleicht gibt es das eine eben nicht ohne das andere. Ich schätze dieses Gefühl weil es mich stark mit de Gegenwart verbindet. Aber missbrauche ich meine Vorstellungskraft dabei nicht, um die Abwesenheit von etwas vorauszuspüren, das doch eigentlich da wäre?

Jetzt weiss ich auch, warum mich die Info-Tafel auf der Bettmeralp an Prousts Problem – und also an meines erinnert hat. Man könnte dieses Problem nämlich, die Tafel vor Augen, verkürzt auch so beschreiben: Wenn ich hier drücke, dann leuchtet es da. – Wenn ich aufmerksam Wein trinke, wenn ich den Aromen und den richtigen Worten nachspüre und dabei den Tag in diesem Raum nachklingen lasse, dann ist das sicher auch ein Versuch, den Druck und das Leuchten etwas näher zueinander zu bringen – oder anders gesagt, dem einen eine Ahnung von der tatsächlichen Nähe des anderen zu geben.

Oder ist es Tee, ein getrockneter Oolong – da huscht jedenfalls noch eine exotische Note durchs Riesling-Gebüsch, die keine Frucht ist. Ein Marzipanschweinchen oder ein Rübchen, vielleicht schmecke ich hier die etwas angetrocknete Dekoration eines Geburtstagskuchens, wie man sie sich irgendwann im Verlauf eines Abends – mehr aus Langeweile denn aus Lust – in den Mund schiebt. Oder sind es unreif gepflückte Brombeeren? Der Wein hat etwas, das Kinder lieben würden, etwas leicht Übertriebenes – mir gefällt das auch.

Getrunken am Sonntag, 16. August 2015 in der Küche meiner Wohnung über dem Bahnhof Tiefenbrunnen in Zürich (Schweiz). Gekauft in der «Boutique Clos 3/4» in Mulhouse (€ 22.90 im August 2014).

Nächste Flasche

Alsace Riesling Domaine Weinbach Clos des Capucins Cuvée Theo

AOC, 2009, 14% Vol.

100% Riesling

Weisswein aus dem Elsass (Frankreich), produziert von Colette, Catherine et Laurence Faller in Kaysersberg (auf Karte anzeigen).

First Publication: 16-8-2015

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