98. Flasche
Cahors Baldès Clos Triguedina 2010
Von aussen unbewegt riecht der Wein nach getrockneten Pflaumen, leicht erwärmt. Mit der Bewegung kommt eine würzig-frische Fruchtnote dazu, auch krümeln gemahlene Haselnüsse über den Tisch, feucht, eine Ahnung von Beton oder Mörtel. Im Mund wirkt der Wein kühl und süss im Anklang, säuerlich und adstringierend im Abklang, ein wenig bitter auch. Von innen ist der Cahors weniger reif als es die Nase erwarten lässt – eher schmeckt er jung, ein wenig aggressiv auch, mit einer markanten Note von nicht sehr sonnenverwöhnten Kirschen. In Nachhall kühlt ein Automotor ab, hängt sich der Wein trocken an die Schleimhäute.
Unter einem blauen Himmel bin ich an diesem Nachmittag von Linthal im Glarnerland auf den Klausen-Pass spaziert – der graue Dunst, der da und dort über den Wipfeln hing, hat mich erst kurz vor der Passhöhe eingeholt. Es sind mir nicht viele Leute begegnet, aber drei Mal kamen mir Väter mit ihren Söhnen entgegen – und das passiert sonst nicht oft. Es hat mich an die wenigen Wanderungen erinnert, die ich selbst mit meinem Vater unternommen habe, vor vierzig Jahren etwa.
Mein Vater kann seit Monaten kaum mehr gehen – seine Hüftgelenke machen nicht mehr mit. Das Problem hat sich kurz nach dem Tod meiner Mutter im Januar nochmals deutlich verschärft. Mein Vater kann auch nicht trauern, weder um meine Mutter noch um sein Leben, das fünfzig Jahre lang in ihrem Schatten stand. Ich habe mich immer wieder gefragt, warum er seine Hüftgelenke nicht gleich operieren lässt. Heute kam mir in den Sinn, dass es ihm derzeit wohl einfach passt, den Schmerz in seinen Beinen zu spüren – statt im Gemüt.
Und ich? Ich bin froh, dass ich aufrecht durchs Gebirge gehen kann.
Auch mit der Zeit bleibt der Cahors quirlig und besingt uns mit seiner juvenilen Alkoholstimme. Aber plötzlich tauchen da auch ein paar Rauschwanden auf, legt sich eine Ecke bitterer Schokolade in den Mundwinkel. Das Aggressive aber bleibt.
Getrunken am Samstag, 26. September 2015 in der Küche meiner Wohnung über dem Bahnhof Tiefenbrunnen in Zürich (Schweiz). Gekauft bei «E. Leclerc» in Saint-Louis (€ 18.33 im April 2015).
Cahors Baldès Clos Triguedina
AOC, 2010, 14% Vol.
Cot (gemäss AOC-Regelung wenigstens 70%), Merlot und Tannat
Rotwein aus dem Südwesten (Frankreich), produziert von Jean-Luc Baldès in Puy-l’Evêque (auf Karte anzeigen). Vignerons depuis 1830. Am Concours des grands vins de France à Macon hat der Wein 2013 eine Médaille en bronze erhalten.
First Publication: 26-9-2015
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