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Sie hat ihren ganz eigenen Stil, die blaue Hose, die man beim Gastroenterologen in Zürich anziehen muss, ehe man sich zwecks Darmspiegelung auf den Schragen legt. (Mittwoch, 30. März 2016)

107. Flasche

Kleine Illusionen

Cahors Cahors Château du Cèdre 2011

Von aussen unbewegt riecht der Wein kräftig nach dunkler Pflaume, Bitterschokolade und Leder. Die Bewegung holt eine leicht pfeffrige Note hervor. In einzelnen Bereichen ist auch etwas Metallisches auszumachen. Im Mund schmeckt der Château du Cèdre leicht staubig und fleischig zugleich. Er ist zurückhaltend süss und nur wenig sauer, mit gut verankertem Tannin. Von innen riecht der Wein stark nach Wildbret und ein bisschen nach Schokolade, auch eine grosse Ledertasche steht da, gefüllt mit ein paar Zwetschen oder vielmehr einem nicht gezuckerten Zwetschgenkuchen. Oder Zwetschgenkompott? Mache ich da auch eine leichte Kotnote aus?

Aber da ist meine Nase vielleicht nicht ganz frei – habe ich doch heute die zweite Darmspiegelung meines Lebens hinter mich gebracht. Wobei mein Anteil an der Tat nur darin bestand, meine Gedärme vorgängig zu leeren und dann mein Hinterteil zur Verfügung zu stellen. Während der Diät, die ich in den letzten Tagen einhalten musste, ist mir immer wieder meine Mutter in den Sinn gekommen. Sie hat vor ihrem Tod fast acht Monate lang nichts gegessen und keinen Schluck Wein getrunken. Ich habe sie manchmal gefragt, wie sie das durchhalte – und sie hat immer gesagt, es mache ihr erstaunlich wenig aus. Dabei ist sie mehr und mehr in ihrem Skelett verschwunden. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie gelitten hat. Aber vielleicht hat diese Leere auch zu einem Gefühl gepasst, das sie in den finalen Monaten ihres Lebens gequält hat – zu diesem Gefühl der Enttäuschung, das ihre letzten Gedanken immer wieder heimgesucht hat. Die Krankheit meiner Mutter ist praktisch am selben Tag ausgebrochen, an dem ich diese Flaschen-Serie begonnen habe. Doch es gibt da keinen Zusammenhang.

Fünf Jahre sind seit meiner letzten Darmspiegelung vergangen – fünf Jahre sind jetzt ziemlich genau ein Zehntel meines bisherigen Lebens. Ich versuche mich zu erinnern, wo ich vor fünf Jahren stand, wer ich war, wie ich mich seither verändert habe. Man neigt in solchen Momenten zu Bemerkungen wie: Ich mache mir heute weniger Illusionen als damals. Aber ich weiss gar nicht, ob ich mir je Illusionen gemacht habe. Illusionen passen nicht so recht zu meiner Lebensführung, richten sie sich doch meist auf grössere Räume, Zeitspannen, Schritte, Projekte oder Ideen. Und mein Leben geschieht in ganz winzigen Schritten. Aber vielleicht gebe ich mich täglich der kleinen Illusion hin, dass ich heute einen klugen Gedanken haben, etwas mit mehr Freiheit wahrnehmen, ein Glücksmoment erleben, etwas Besonderes essen oder trinken kann? Vielleicht allerdings lässt sich dies gar nicht erleben, nicht so bewusst auf jeden Fall, wie ich mir das wünschen würde. Vielleicht kann man es nur herbeisehnen – und sich gegebenenfalls daran erinnern, wobei die Erinnerung natürlich auch teilweise oder gänzlich Erfindung sein kann.

Was ich täglich erlebe ist, dass ich mir Sorgen mache – um mich und meine Gesundheit, um meine Entourage, um die Zukunft, um meine Linie, um den Takt, um die Schaffenskraft. Sorgen, jeden Tag – dabei würde ich mich aber eher als einen etwas oberflächlichen Menschen bezeichnen, der nur kleine und fast ausschliesslich persönlich motivierte Fragen an das grosse Leben hat. «Kleindenker» hat mich jemand mal genannt – und wahrscheinlich hatte er recht. Aber die kleinen Fragen beschäftigen mich, quälen mich manchmal – und also lenke ich mich davon ab indem ich andere Gedanken pflege. Das hat manchmal fast den Charakter einer Verordnung. Es bläst aber dennoch etwas leichtere Luft in meine Seele und gibt mir das Gefühl, ich würde mein Leben gestalten. Was ich ja auch tue – selbst wenn diese Gestaltung nur ein Nebeneffekt meiner Sorgen ist. Daran hat sich auch in den fünf Jahren seit meiner ersten Darmspiegelung nichts verändert – aber vielleicht bin ich heute der Ansicht, dass der Kompromiss auch eine gewisse Schönheit hat.

Mit der Zeit kaut man einen Duft aus diesem heraus, der an die Luft in asiatischen Nahrungsmittel-Geschäften erinnert – nicht an die Durian, aber an einen Gesamtklang der trockenen Würzen. Auch eine Idee von Wacholder und Lorbeer ist auszumachen – und die Schokolade hält sich gut.

Getrunken am Mittwoch, 30. März 2016 in der Küche meiner Wohnung über dem Bahnhof Tiefenbrunnen in Zürich (Schweiz). Gekauft bei «Le Repaire de Bacchus» in Paris (€ 19.90 im Februar 2016).

Nächste Flasche

Cahors Château du Cèdre

AOC, 2011, 13.5% Vol.

100% Cot (?)

Rotwein aus dem Südwesten (Frankreich), produziert von Verhaeghe & Fils in Vire-sur-Lot (auf Karte anzeigen).

First Publication: 31-3-2016

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