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In seiner 8. «WoZ»-Kolumne vom 5. Februar 2004 äussert sich José Maria über «raumspezifische Kunst» und ein paar andere Heftigkeiten. Er konstatiert, dass es der Kunst an bedeutungsschwierigen Termini nicht fehlt – liest es jedoch als Zeichen einer gewissen Erschöpfung, wenn solche Begriffe zu Hindernissen werden.
Zwei nackte Füsse ragen in den Himmel.

8. Raumspezifische Kunst («Aus der Begriffsfontäne»)

Das war nötig – ganz dringend sogar: Ferien von der Kälte, Urlaub von den Anstrengungen eines Residenz-Künstlers, eine schöpferische Auszeit, ein paar Tage zu Hause. Als ich die Schweiz verliess, trieb ein gemeiner Wind matschige Schneeflocken durch die Strassen. Selbst in meinen mit Hasenpelz gefütterten Schuhen wurden mir die Zehen klamm – und kaum eine Stunde vor meiner Abreise rutschte ich auch noch auf einem Fussgängerstreifen aus und wäre fast von einem Lastwagen der Migros überfahren worden. Das war gestern früh. Jetzt sitze ich hier in der Bucht von Piebò und spüre den Sand unter meinen nackten Füssen. Es ist Nacht. Von Zeit zu Zeit schlägt eine Brandungswelle sanft gegen den Strand, leuchtend weiss bricht dann ein Schaumstreif aus der Dunkelheit hervor. Meine Hose klebt leicht an der Haut meiner Schenkel, und ich trinke alten Rum. Ohne Vorwarnung platzen dann und wann schwere Regentropfen vom Himmel in mein Glas und lassen die Flüssigkeit in kleinen Fontänen hochspritzen. 

Ich spüre, wie Wärme und Feuchtigkeit der karibischen Luft in meine Haut eindringen und merke, dass jeder Windhauch angenehm ist. Kaum kann ich glauben, dass sich mein Körper vor wenigen Stunden noch mit dicken Kleidern gegen die Kälte schützen musste. Und der Gedanke, dass ich hier einfach am Strand einnicken könnte, ohne dabei unweigerlich zu erfrieren, erscheint mir irgendwie absurd. Trotzdem war es nicht das Klima allein, das mich zu dieser kleinen Flucht getrieben hat. Es war meine eigene Feigheit. Ein Kurator war mit der Bitte an mich herangetreten, für eine Ausstellung in einer alten Seidenfabrik eine «ortsspezi fische Arbeit» zu entwickeln - und mir war nichts Passendes eingefallen. - Dabei mangelte es nicht an Ideen für Projekte, die inhaltlich oder formal mit dem Ort zu tun gehabt hätten. Ganz im Gegenteil: Mit der Zeit kam ich zum Schluss, dass eigentlich alles, was irgendwo in Erscheinung tritt, automatisch in eine äusserst komplizierte Beziehung zur Umgebung gerät - und so gesehen also eigentlich alles immer auch «ortsspezifisch» ist.

Natürlich gibt es künstlerische Arbeiten, die über diese «automatische Ortsspezifik» hinausgehen. Zum Beispiel indem sie auf den Raum eingehen, Eigenheiten der Architektur sichtbar machen etc. Oder aber indem sie vom Raum ausgehen und etwa die architektonischen Vorgaben mit der eigenen Ideenwelt durchdringen und verändern. Oft allerdings wird der Begriff «ortsspezifisch» für Arbeiten gebraucht, die an jedem anderen Ort genauso spezifisch oder eben unspezifisch wirken würden. Dann wird der Begriff als eine Art Gütesiegel verwendet, evoziert er doch Bescheidenheit, Relevanz, Sorgfalt und Aktualität. Nun gibt es in der Kunst ja diverse Begriffe, deren eigentliche Bedeutung sich erst mit ihrer Anwendung auf einzelne Werke erschliesst. So meint etwa «prozessorientiert» meist, dass eine Arbeit noch nicht ganz durchdacht, noch nicht ganz fertig oder zumindest noch nicht auf einen Punkt gebracht ist. Spricht man von «Appropriation», dann wurden Inhalte oder Formen aus einem anderen Zusammenhang entwendet - und der Künstler hatte noch nicht die Zeit, diese Ideen soweit zu verfremden, dass man sie nicht mehr als Diebesgut erkennt. Ganz ähnlich bedeutet «Dekonstruktion» nur selten, dass etwas wirklich vom Sockel geholt und in seine Bestandteile zerlegt wird. Meist wird «Dekonstruktion» diagnostiziert, wenn sich ein Künstler ganz offensichtlich mit einer bestimmten Sache beschäftigt – niemand jedoch sagen kann, worauf er wohl genau hinaus will. «Institutionskritik» meint, dass etwas nicht an einen bestimmten Ort passt. Und die simple Vermutung, dass es auf dieser Welt einen Unterschied zwischen Männern und Frauen gibt, gilt in der Regel bereits als «Gender Art». 

An bedeutungsschwierigen Begriffen fehlt es also wahrlich nicht. Und man muss es wohl als Anzeichen einer gewissen Erschöpfung lesen, wenn solche Termini zu Hindernissen werden. Wobei «ortsspezifisch» besonders gemein ist - bleibt da doch etwas an einem kleben, wohin man auch eilt. Und so frage ich mich denn, quasi als Gegenmassnahme, ob man es nicht vielleicht auch schon als Kunst ansehen kann, wenn jemand zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist. – In meiner Schweizer Gaststadt ist der einzige wirklich warme Ort derzeit eine Reptilienausstellung, wo Riesenechsen und Klapperschlangen ihre gespaltenen Zungen in der Kunstsonne hängen lassen. Unter solchen Bedingungen ist es ganz bestimmt Kunst, wenn man in der Karibik seine blossen Füsse gegen einen unendlichen Horizont streckt.

Dieser Text von José Maria wurde erstmals publiziert in: «Die Wochenzeitung», 5. Februar 2004, Nr. 6 / S. 21.

Ortsspezifisch von Natur aus - und prozesshaft ebenso.
Krallen eines Straussenvogels.