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In seiner 5. «WoZ»-Kolumne vom 24. Juli 2003 sucht José Maria in Zürich nach seinem «eigenen Blick». Er kommt zu dem Schluss, dass ein solcher Blick vor allem eine Frage der Haltung sei und versucht also, eine typisch karibische Position einzunehmen - was nicht ohne Folgen bleibt.
Eine Fuss, in den Himmel gestreckt.

5. Grosse Erwartungen («Der eigene Blick»)

Wenn man von Santa Lemusa kommt, dann weiss man viele Dinge nicht, die für Schweizer banal und selbstverständlich sind. Zum Beispiel war mir zu Beginn meiner Zeit als Artist-in-Residence hier in der Schweiz nicht ganz klar, was denn wohl eigentlich meine Aufgabe sei. Also stellte ich Nachforschungen an und fand bald heraus, dass über alle Gastkünstler immer wieder dasselbe gesagt wird: Es ist ihr «eigener Blick» auf diesen oder jenen Ort, der das Publikum interessiert. Dieser «eigene Blick» schien mir eine ganz spezielle, fast etwas magische Angelegenheit zu sein - und ich überlegte also, wie ich denn wohl selbst zu einem solchen kommen könnte. 

In Langenthal, wo ich hauptsächlich residiere, wollte ich einen derartigen Blick vorerst nicht riskieren – schliesslich konnte dabei ja allerhand schief gehen. In einer grösseren Stadt indes, so war ich überzeugt, würde es weniger auffallen, wenn an meinem ersten «eigenen Blick» noch ein paar Dinge nicht ganz richtig sein sollten. Ich fuhr also nach Zürich mit dem festen Entschluss, dort einen «eigenen Blick» auf die Stadt zu werfen. – Auf dem Bellevueplatz angelangt, der mir schon wegen des Namens für mein Unterfangen besonders geeignet schien, tat ich ein paar tiefe Atemzüge und konzentrierte mich ganz auf die Gefühle, die diese Umgebung in mir provozierte. Ich war überzeugt, dass mich diese Empfindungen früher oder später zu einem «eigenen Blick» führen würden. Das allerdings, was bald als deutlich stärkstes Gefühl in mir dominierte, war da wohl kaum zu gebrauchen: Ich hatte Hunger. 

Kulinarisch kennt der Bellevueplatz ja keine Grenzen: Von Aal-Sushi bis Zabaione wird da die halbe Welt auf Tellern gereicht. Da ich mich nicht entscheiden konnte, stellte ich mich einfach vor jener Bude an, wo die meisten Menschen Schlange standen - ganz so wie es Touristen gerne tun, da sie der Meinung sind, dass sich die Zunge der Einheimischen ja wohl unmöglich täuschen kann. Nach einiger Zeit schliesslich drückte mir ein hünenhafter Tamile, der gewiss einen Tiger mit der blossen Hand hätte erledigen können, ein Papptellerchen mit einer gegrillten Wurst, einem Stück Brot und etwas Senf in die Hand. – Meine Mission allerdings war damit natürlich noch nicht erfüllt. Denn nun hatte ich zwar eine eigene Grillwurst, jedoch immer noch keinen «eigenen Blick». Nach dem ersten Bissen allerdings fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Natürlich, der «eigene Blick», das war doch hauptsächlich eine Frage der Haltung, der Perspektive.

Ich überlegte also, welche Haltung ich als karibischer Künstler an einem Ort wie Zürich einnehmen könnte. Nun gilt es ja als eine Eigenschaft des karibischen Menschen, dass er sich gerne unter Palmen legt und die Welt aus dieser geruhsamen Position heraus in Augenschein nimmt. Das schien mir ein geeigneter Ansatz. Ich schritt folglich zu einer schönen Platane mitten auf dem Bellevueplatz und streckte mich dort in meiner typisch karibischen Haltung aus. Tatsächlich veränderte das meinen Blick auf Zürich: Anstatt der vielen Menschen, die vorher in meinem Sehfeld herumgekrabbelt waren, sah ich nun bloss noch meinen Fuss, die obere Partie des Opernhauses und ein grosses Stück Himmel. Das stimmte mich zuversichtlich und ich wartete also geduldig auf meinen «eigenen Blick», der sich nun wohl doch noch einstellen würde.

Die zwei Polizisten, die mich gegen Abend weckten, waren ausserordentlich freundlich. Mein Pass machte sie zwar erst ein wenig misstrauisch. Aber als ich Ihnen erklärte, dass Santa Lemusa nicht etwa ein arabischer Kleinstaat, sondern eine Insel am Ostrand der Karibik sei, da zerstreute das ihre Bedenken. Jetzt erinnerte sich der eine gar daran, dass er bei seiner letzten Urlaubsplanung in einem Prospekt auf Santa Lemusa gestossen sei - sich schliesslich aber dann doch für Mauritius in der Südsee entschlossen habe. Ich empfahl ihm, das nächste Mal wirklich in meiner Heimat Ferien zu machen und gab ihm meine Adresse. – Wieder allein, fühlte ich mich ziemlich schlecht. Zwar hatte ich verdaut und geruht, auf einen «eigenen Blick» aber war ich immer noch nicht gestossen. Allerdings hatte mein Zürcher Experiment gezeigt, dass mich die Suche nach dem Eigenen offenbar erst hungrig und dann schläfrig machte. Da mir der «eigene Blick» nun mal so schwer fiel, musste ich mir als Artist-in-Residence wohl eine andere Aufgabe suchen – warum, so fiel mir ein, sollte ich es nicht mal mit einer «raumspezifischen Intervention» versuchen? 

Dieser Text von José Maria wurde erstmals publiziert in: «Die Wochenzeitung», 24. Juli 2004, Nr. 30 / S. 18.

Wie aber kommt man denn nun zu einem «eigenen Blick»?
Auge einer Kuh.