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In seiner 11. «WoZ»-Kolumne vom 29. Juli 2004 überlegt sich José Maria, was man als Besucher gegen verzweifelte Formen von Langeweile in Ausstellungen tun könnte. Er fühlt sich dabei wie ein Goldfisch, der längst begriffen hat, dass sein Glas rund ist – auch die Schachnovelle von Stefan Zweig, Leibesübungen, Rollensiele oder erotische Fantasien helfen ihm aus seiner Museumsklemme nicht.
Tentakel einer dehydrierten Krake.

11. Langeweile in Ausstellungen («Freibillet mit Tücken»)

Vielleicht kommt Ihnen die Situation nicht ganz unbekannt vor. Eben haben Sie bei der Dame am Eingang, deren argwöhnisch gerunzelte Stirn Sie beflissentlich zu übersehen suchten, mit Hilfe Ihres akkurat gefälschten Presseausweises ein Freiticket für die Ausstellung erschlichen. Und jetzt stehen Sie mitten in den Räumen des Museums und merken, dass Sie die gezeigte Kunst eigentlich überhaupt nicht interessiert.

Hätten Sie bloss bezahlt! Denn wer seine Suppe bezahlt, der darf sie auch kaum berührt in die Küche zurückgehen lassen. Sie aber müssen sie auslöffeln. Denn was für ein Bild gäben Sie sonst von ihrem vermeintlichen Berufsstand ab. Die Föhntäler des Missbilligung, die sich schon bei ihrem Museumseintritt rund um die Augen der Kassiererin gebildet hatten, sie würden sich bei ihrem Austritt nach nur fünf Minuten mit Garantie zu Endmoränen der Verachtung aufwölben. (Sie merken, liebe Leser, Ihr karibischer Gastkünstler war touristisch in der Schweiz unterwegs.) – Sie haben also keine Wahl: Wenn kein Wunder geschieht, wie zum Beispiel ein Wachwechsel am Museumseingang, dann müssen sie mindestens eine Stunde lang bleiben. Sie schauen auf die Uhr, nun sind schon sechs Minuten vergangen, es bleiben also nur noch 54 zu bestehen. – Wie ein Goldfisch, der längst begriffen hat, dass sein Glas rund ist, bewegen Sie sich an den Bildern vorbei, die auch noch penetrant auf Augenhöhe gehängt sind. So viele Farben, was für eine Verschwendung. Stefan Zweig kommt ihnen in den Sinn und also versuchen sie, sich im Kopf eine Schachpartie mit dem ausgestellten Künstler zu liefern – doch schon nach wenigen Zügen haben sie die Übersicht und damit das Spiel verloren. Noch 52 Minuten sind durchzustehen.

Wenn der Kopf nicht kann, dann will ja vielleicht der Bauch. Also lassen Sie, während Sie an Bildern vorbeidefilieren, auf denen sich rote und gelbe Balken über grünem Grund in einem konstruktiven Gleichgewicht zu halten bemühen, ihrer erotischen Fantasie freien Lauf. Erst denken Sie an reale Erlebnisse zurück, dann schicken Sie die Gedanken in die Umlaufbahn ihrer weiteren wilden Wünsche. (Männer können eine Erektion im Museum zumindest als sportliche Leistung verbuchen.) Ganz offensichtlich aber stört die Kunst dabei. Deshalb schliessen Sie die Augen – um sie sogleich erschreckt wieder aufzureissen. Denn das ist nun gar nicht auszuhalten, so beobachtet fühlten Sie sich noch nie – es ist, als hingen nicht Bilder, sondern Augen auf der Wand. Und zum Sex-Objekt wollen sie hier doch nicht werden. 49 Minuten noch. 

Nun versuchen wir es vielleicht mit einem Rollenspiel. Stellen wir uns vor, wir seien schwer übergewichtig und dabei extrem kurzsichtig. Beugen Sie sich also so weit wie möglich nach vorne, um etwas von dem Bild zu sehen. Ziehen Sie gleichzeitig so stark wie nur möglich die imaginäre Wampe ein, um nicht gegen das Kunstwerk zu stossen. Verharren Sie so lange wie möglich in dieser Position. Noch 48 Minuten zu stehen. – Unruhige Charaktertypen setzen nun bereits die ersten Duftnoten ihrer grassierenden Verzweiflung in die Luft ab – bald wird man Ihre Angst im ganzen Haus riechen können. Einen Moment lang spielen Sie mit der Idee, auf der Museumstoilette einen Feueralarm auszulösen. In der allgemeinen Aufregung müsste es Ihnen wohl gelingen, das Museum unbeschadet zu verlassen. Leider haben Sie vor zwei Jahren das Rauchen aufgegeben (Go to hell, Allan Carr!). 47 Minuten bis zum Ziel. – Wären Sie doch bloss ein Fisch, dann könnten Sie sich auf dem Klo in die Freiheit spülen – wie der findige Nemo in nämlichem Film. Leider fühlen Sie sich eher wie eine Krake, die hier zur Dehydrierung an der Kunstsonne liegt.

Nein, denken Sie ja nicht daran, jetzt um Verzeihung zu bitten. Sie können auf blutigen Knien durch die Eingangshalle rutschen, die Mephisto-Schuhe der Kassiererin küssen, sich den Schädel am Schirmständer grün und blau schlagen – die Lawinenschranken der Missbilligung werden nicht aus der Stirn der Dame weichen. 44 Minuten noch. – Vielleicht sollten Sie eine Ohnmacht oder noch besser eine Herzattacke vortäuschen, um sich dann von der Ambulanz aus dem Museum retten zu lassen. Doch erstens bringt so etwas Unglück und zweitens weiss man heute ja nie, ob nicht irgend ein übereifriger Jungarzt auf die Idee kommt, einen noch im Museum selbst zu reanimieren. 43 Minuten. - Da ist es sicherer, Sie schlagen eine Saalaufsicht nieder, die ungefähr Ihre Kleidergrösse hat, stülpen Sie sich deren Uniform über und entweichen durch den Dienstausgang. 42 minutes to go. – Einfacher noch: Sie stellen sich auf das Ende dieser Kolumne, halten sich die Nase zu und springen…

Dieser Text von José Maria wurde erstmals publiziert in: «Die Wochenzeitung», 29. Juli 2004, Nr. 31 / S. 17.

Wie eine Krake, die zur Dehydrierung an der Kunstsonne liegt.
Tentakel einer dehydrierten Krake.