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Tokio, Nishi-Nippori, Arakawa-ku, «Chalet Swiss Mini»

Szene 16

Maille schlief unruhig in dieser Nacht – wie immer, wenn er am Morgen früh aufstehen musste. Es gehörte zu den Privilegien seiner Tätigkeit, dass es keine festen Arbeitszeiten und folglich auch keinen Grund gab, sich am Morgen vor der Zeit aus den Federn zu quälen. Er nannte das den «Mineralwasserschlaf» und unterschied ihn vom «Pumpwasserschlaf». Während Mineralwasser nach der benötigten Ruhe im Felsen von alleine wieder an die Oberfläche kommt, wird Pumpwasser mit Gewalt aus seinem Schlummer im Innern der Erde gerissen.

Wenn Maille allerdings dann doch ausnahmsweise zu einem bestimmten Zeitpunkt aufstehen musste, dann verdarb ihm das regelmässig die ganze Nacht.

In seinen Träumen hetzte er durch eine verschneite Berglandschaft – offenbar war er hinter jemandem her. Er befand sich am Mont Déboulé auf Santa Lemusa, so viel war sicher, obwohl seine Heimat ja so nahe am Äquator lag, dass es da selbst in der kühlsten Jahreszeit auf der 1288 Meter hohen Spitze dieses höchsten Berges der Insel noch viel zu warm war für Schnee.

Dann war er in einem typisch Schweizer Chalet. Von den Fichtenholzmöbeln über die Fahnen bis zu den Kalendern an der Wand war alles, wie es an einem solchen Ort sein sollte – und doch: Sosehr man hier eindeutig in der Schweiz war, sosehr erschien die Schweiz hier eher wie eine Fiktion, eine jener sagenhaften Inseln, wie sie Seefahrer noch bis ins 19. Jahrhundert hinein immer wieder erfunden hatten, um so ihren Auftraggebern das Geld für neue Expeditionen aus der Tasche zu ziehen.

Und dann war er plötzlich am Fujisan und folgte mit keuchendem Atem schon wieder Spuren im Schnee, derweilen der graue Himmel über ihm alles und nichts versprach:

Kaze ni nabiku
Fji no keburi no
sora ni kiete
yukue mo shiranu
waga omoi kana

Vom Wind getrieben
zerfliesst am Himmel der Rauch
des Berges Fuji
– so auch wer weiss wohin
meine innersten Wünsche

Gedicht und Übersetzung aus: «Gäbe es keine Kirschblüten…». Stuttgart: Reclam Verlag, 2009. S. 75. Hören Sie wie das Gedicht auf Japanisch klingt.

Was sich der alte Mönch Saigiō 1186 gewünscht hatte, war das eine – was aber waren denn seine eigenen innersten Wünsche? Die Frage war so anstrengend, dass Maille noch vor seinem Weckruf die Augen aufschlug.