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Ho Chi Minh City, Saigon River

Szene 15

«Deine Köchin Odette hat das Rätsel gelöst», freute sich Marie am Telephon und ihre Stimme klang wie ein Strahlen.
«Wieso meine Köchin? Arbeitet sie jetzt auch für das Büro?» Maille lag noch im Bett als Marie anrief und er fühlte sich wie jemand, dem man mitten in der Nacht mit einer Taschenlampe ins Gesicht leuchtet. Trotzdem entging es ihm nicht, dass Marie wie ausgewechselt schien: Kein schnippische Begrüssung, keine kleinen Gemeinheiten, keine Unterstellungen – und ein Timbre als arbeite sie als Animatrice auf einer Kindergeburtstagsparty. Was war passiert?
«Von was für einem Rätsel sprichst du eigentlich», kam es Maille in den Sinn.
«Na von Salomons Siegel!»
«Und?»
«Es ist ein Tee – ein berühmter Koreanischer Tee. Die Pflanze stammt aus der Familie der Mäusedorngewächse und man schreibt dem Aufguss verschiedene gesundheitsfördernde Eigenschaften zu. Wir können also davon ausgehen, dass Tatjana ihrem Vater Salomons Siegel geschickt hat weil sie sich um das Wohl ihres alten Herrn sorgt – so wie ich meiner Mutter Gelee Royal von den Griechischen Inseln mitbringe.»
«Gelee Royal? Mäusedorn? Aber wie kommt es, dass es Odette war, die das herausgefunden hat. Ich meine, wie kommt sie dazu? Wie hat sie überhaupt etwa von Salomons Siegel erfahren?»
«Nun, ich habe es ihr erzählt. Es war ja nicht so fürchterlich geheim oder? Sei doch froh: Wir dachten ja schon, da sei irgend ein Geheimbund mit im Spiel – ein Orden vom Siegel Salomons oder sonst so eine kreuzritterliche Schweinerei.»
«Geht meine Köchin denn nun bei euch täglich ein und aus?»
«Das nicht gerade. Aber wir haben uns, sagen wir mal, ein wenig angefreundet.»
«Angefreundet?»
«Keine Angst, wir sprechen nicht über dich. Du bist schon OK.»

Maille legte auf mit dem Gefühl eines Menschen, der spürt, dass er irgendetwas ganz entscheidendes verpasst hat – und doch auch weiss, dass er nie herausfinden wird, was es war. Damit kam er zurecht – er war es gewohnt, dass die Wirklichkeit dann und wann solche Löcher in sein Leben schlug, das sich ohnehin mit jedem Jahr mehr wie eine Emmentaler-Existenz präsentierte. Was ihn wirklich kränkte, war, dass die zwei Frauen nicht über ihn sprachen. Vollends erschüttert aber hatte ihn Maries tröstliches Schlusswort er sei «schon OK». Das war die totale Entwürdigung, die radikale Auslöschung von allem, was er für Marie und vielleicht auch für seine Köchin Odette sein wollte – und manchmal wenigstens in seinen Träumen auch ein bisschen war.

Er schlüpfte in irgendwelche Kleider und irrte durch das morgendliche Saigon wie einer, dem ein billiges Hollywood-Movie in der Brust pocht. Ein armer Tropf, dem sein Chef eben glaubhaft erklärt hat, dass er ihn seit zehn Jahren aus purem Mitleid beschäftigt. Oder aus Freundschaft zum Vater des Tropfs? Oder weil er ein Verhältnis mit der Ehefrau des Tropf hat? Die Unterredung könnte damit enden, dass der Chef dem Tropf schliesslich fast ein wenig barmherzig in die Tropf-Augen schaut: «Tropf! Haben Sie sich denn nie gefragt, warum ihre Tochter so hübsch ist und warum sie so dunkle Haare hat?» Im Film folgen die Verbündung mit einem anderen Tropf, Trost, Renaissance der Selbstachtung, sublime Rache und schliesslich grossherzige Nachsicht. Im wirklichen Leben gab es nur ein paar Fussknöchel, die immer noch in Flammen standen.