«Das Leben hat einen ganz anderen Begriff von Chaos und Ordnung als der Mensch», schreibt Deon Godet und führt ausgerechnet den Rotkohl als Kronzeugen für diese Behauptung an. Wer einen solchen Kappes auseinander schneide, der sehe sich mit einer «erhabenen Realität» konfrontiert und müsse früher oder später zugeben, dass der Mensch diese Art von Ordnung mit einem Verstand nie durchdringen könne, der «in primitiven Kategorien wie Raum und Zeit operiert».
Ob man sich auf den Spuren Godets vom Rotkohl zu tieferer Erkenntnis führen lassen will oder nicht, der Schnitt durch einen solchen Kraut-Kopf produziert ein eindrückliches Bild: die im Kern weissen, aussen aber bordeauxblau- bis lilafarbenen Blätter liegen eng aneinander und scheinen bei jedem Exemplar nach etwas anderen Gesetzmässigkeiten gewachsen. Im Querschnitt werden Formen sichtbar, die vage an zerquetschte Sterne oder Spinnennetze erinnern können, auch die famose Andouille de Vire kommt einem in den Sinn. Faszinierend sind insbesondere die Faltungen der Blätter, neben deren kühnem Hin und Her sich das Gewand einer gotischen Madonna wie ein planes Laken ausnimmt. Nahezu jeder Millimeter des Kopfs ist von Kraut durchwachsen, und es ist dem Auge kaum möglich, den einzelnen Blättern durch dieses Labyrinth zu folgen, das ohne Eingang und ohne Ausgang scheint. Im Längsschnitt dominieren Formationen, die aussehen, als seien sie von einem ganzen Erdzeitalter hervorgebracht worden, das Ergebnis tektonischer Verschiebungen der gewaltigen Art. Oft lebt der Strunk darin wie ein geisterhaftes Wesen, das mit seinen ganz unterschiedlich geformten Armen in den Schichten steckengeblieben ist – oder aber in ihnen geisterhaft wirkt. Man denkt auch an Karl Blossfeldt, an seine «Urformen der Kunst», und fragt sich, wie der Rotkohl dem Auge seiner Kamera entgehen konnte.
Vielleicht lag es daran, dass Blossfeldt ausschliesslich schwarz-weiss fotografierte – der Rotkohl seine Wirkung aber auch der Farbe verdankt, wobei er auf sauren Böden eher ein dunkles Bordeauxrot entwickelt, auf alkalischem Grund ein manchmal fast metallisches Lilablau. Das Farbspiel setzt sich auch in der Küche fort, wo man durch Zugabe von Säure zum Kochwasser ein leuchtend rotes Kohlgericht herstellen kann.
Der erste Maler, der diesen Farbenspieler für bildwürdig befand, war der Flame Frans Snyders. In einem Stillleben mit Früchten und Gemüse, das meist auf das frühe 17. Jahrhundert datiert wird und heute dem Norton Simon Museum in Pasadena gehört, ist ein gigantischer Rotkohl abgebildet. Allerdings darf er natürlich nicht auf den Tisch mit den kostbaren Früchten, sondern muss sich mit einem Platz am Boden begnügen, umringt von Cardy, Kürbis, Knoblauch und Blumenkohl. Viel weiter zurück reichen auch die schriftlichen Quellen nicht, die Rotkohl erwähnen – es sei denn, dass Hildegard von Bingen im 11. Jahrhundert tatsächlich Blaukraut meinte, als sie die Tugenden eines «rubae caulas» beschrieb. Immerhin lässt sich aus der Art, wie Snyders den Rotkohl positioniert, die Vermutung ableiten, dass das Gemüse zu seiner Zeit bereits hinlänglich bekannt war, ein ganz alltägliches Kraut.
Diesen Ruf des Gewöhnlichen hat das Gemüse auch heute noch, gilt es doch als eine schlichte und bäuerliche Speise – seiner unglaublichen Farbe und seinem raffinierten Aufbau zum Trotz. «Man kann den Rotkohl als einen Beweis ansehen, wie grosszügig die Natur zu uns ist – und wie wenig wir ihre Güte schätzen», schreibt Godet – recht hat er, wobei sein Satz auch die Lust in uns weckt, diesen zur Moralpredigt erhobenen Zeigefinger zu beissen. Auch der Biss in ein Stück rohen Rotkohls ist ein Erlebnis, ein Hörerlebnis zunächst, denn es quietscht und kracht unter den Zähnen. Das Aroma löst sich erst mit dem Kauen aus dem Kohl, der zunächst mild schmeckt, ein wenig nach leicht grüner Baumnuss, dann aber eine Schärfe entwickelt, die unvermittelt daran erinnert, dass die Brassicaceae in vielen Sprachen nicht Kohl-Familie heissen, sondern den Senf im Namen tragen. Im Nachklang stellt sich eine erdige bis holzige, manchmal sogar ganz leicht blauschimmelkäsige Note ein. Diese Seiten treten stärker in den Vordergrund, wenn man das Kraut dünstet oder kocht, denn so verliert es an Pikanz und entwickelt eine liebliche Erdigkeit, die sich voller Freude mit Zutaten wie Säure oder Zucker verbindet und sich auch gern vom Rauch eines Specks oder von exotischen Gewürzen durchdringen lässt. Das Grundaroma des gekochten Kohl ist eher dunkel – dünstet man aber ein paar Apfelstücke mit, so dreht sich aus dem Chor der Bässe plötzlich eine helle Stimme hervor, die etwas Jubilierendes hat und unvermittelt fröhlich stimmen kann.
Vielleicht waren diese geradezu himmlischen Klänge ein Grund, warum Christian Morgenstern dem Rotkraut in einem seiner Wolkengedichte einen kraftvollen Auftritt gönnt, als er die Köchin des grossen Pan, die ihm in Kratern und Gletschertöpfen köstliche Bissen brät, eine «Schüssel mit Rotkohl an die Messingwand des Abendhimmels» schleudern lässt – «vielleicht im Zorn, weil ihn der grosse Pan nicht essen wollte».
Dass jemand Rotkohl nicht essen mag, kommt allerdings vor – namentlich Kinder hegen ein gewisses Misstrauen gegen das Kraut, und bei notorischen Gemüsephobikern steht es meist weit oben auf der Liste der Ekel-Speisen. Andere fürchten seine Neigung, dem Körper Blähungen einzureden. Glaubt man indes Godet, so kommt die Ablehnung von Rotkohl der Verweigerung tieferer Erkenntnis gleich. Und gemessen an der Möglichkeit, sich wenigstens kulinarisch eine Ahnung der grösseren Weltzusammenhänge einzuverleiben, sind solche Beschwerden doch wohl nicht mehr als ein harmloser Furz.
Dieser Text erschien erstmals am Wochentag, ??. Monat 2015 als Teil der Serie «Mundstücke» online im Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung».