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Was an verräterischen Informationen in einem ausgespuckten Kaugummi steckt, illustrieren die Expertisen Markus Schwander und Alfred de Chewingny.

«Das Kauen der Matrosen»

Im Herbst 2002 traf Markus Schwander die Autorin und Journalistin Sara Tibuni. Im Gespräch mit ihr erfuhr er von eigenartigen Vorgängen im Zusammenhang mit Kaugummis. Offenbar gibt es auf Santa Lemusa Anschwemmungen von Kaugummis, die vermutlich von Matrosen ins Meer gespuckt wurden. Es ist ungeklärt, weshalb diese Gummis sich offenbar in Gruppen sammeln und so über das Meer treiben. Auf Santa Lemusa wohnt Alfred de Chewingny, ein Spezialist für Kauvorgänge, der Gebissenes analysiert. Markus Schwander nahm am VI. Kongresses der Asscociation Culturelle et Scientifique des Caraïbes Atlantiques (ACSCA) teil, weil er sich erhoffte, mehr über die Hintergründe dieser Kaugummianschwemmungen zu erfahren. Er untersuchte die Strände und stiess dabei auf einige Exemplare im Salzwasser. Gemeinsam mit Alfred de Chewingny untersuchte er die Fundobjekte. Beide geben nachstehend eine Einschätzung über die Herkunft und die Person, die den Kaugummi gekaut hat. Die Expertisen wurden unabhängig voneinander formuliert.

Objekt 1

Expertise Markus Schwander: Energischer, eher nervöser Typ, Backenzahnkauer mit abruptem Abschluss, komplexe Bisschoreografie, energiegeladen; stürmischer Einzelgänger, wahrscheinlich ununterbrochen am Kauen.

Expertise Alfred de Chewingny: Wechselhafter Charakter, der mal ganz liebevoll kaut, dann wieder in plötzlichen Aggressionsschüben die Eckzähne tief in die Kaumasse bohrt, verharrt bis sich ein kleines Vakuum bildet, dann den Zahn mit einem kleinen Schmatzen wieder aus der Masse zieht.

Objekt 2

Expertise Markus Schwander: Weicher, rollender Typ, sehr sensibler Einsatz der Zunge, kaum Abbisse, glatte Oberfläche weist auf eine gesunde Verdauung hin, wahrscheinlich Vegetarier; anschmiegsamer Gefühlsmensch, ruhig und besonnen.

Expertise Alfred de Chewingny: Gelangweilter oder zerstreuter Charakter, der dem Kauen keinerlei Aufmerksamkeit schenkt. Vielleicht auch gehemmte Aggressionen, da er den Gummi nicht kaut, sondern eher wie ein Bobon im Mund herum dreht. Die weiblichen Persönlichkeitsanteile spielen eine wichtige Rolle – wenn auch vermutlich unbewusst.

Objekt 3

Expertise Markus Schwander: Ausfransender, fahriger Typ, beisst wild um sich, Stakkatobisse, höchstwahrscheinlich in einer Stresssituation - eventuell Gefahr - entstanden; ungeduldiger Draufgänger, abenteuerlustig und eigensinnig.

Expertise Alfred de Chewingny: Künstlerischer Typ, der entschieden und heftig, jedoch gleichzeitig mit System auf dem Gummi ‹spielt›. Während er kaut sieht er vor seinem inneren Auge eine plastische Form, die allmählich in seinem Mund entsteht. Frust über die eigene Arbeit lässt ihn den Gummi dann plötzlich enttäuscht ausspucken.

Objekt 4

Expertise Markus Schwander: Entschlossener, treffsichere Typ, runder aber eindeutiger Biss mit langsamem Abgang, eventuell von Kreuzfahrtschiff oder Segeljacht; introvertierter, jedoch entschlossener Mensch, robust und freundlich.

Expertise Alfred de Chewingny: Sparsamer Charakter, der einen ganzen Tag lang denselben Gummi kauen kann. Kafkaeske Persönlichkeit.

Objekt 5

Expertise Markus Schwander: Sorgfältiger, aufbauender Typ, symmetrische Bisstechnik, raffinierter Speicheleinsatz; behutsamer Ästhet mit Hang zum Pathos, Künstlernatur.

Expertise Alfred de Chewingny: Verträumter Charakter, der den Gummi eher streichelt, denn kaut. Auffällig harmoniebedürftiger Mensch, der in allen Lebensbereichen nach Symmetrie und Gleichklang sucht. Vermutlich eher ängstliche Natur.

Objekt 6

Expertise Markus Schwander: In sich drehender, zögerlicher Typ, Ausrollung mit eher schwachen Bissen, Speichel ungewöhnlich basisch, was an den Oberflächenablagerungen zu erkennen ist, kauerndes Ausspucken; in sich gekehrter, unentschlossener Mensch mit wenig Selbstbewusstsein.

Expertise Alfred de Chewingny: Nachlässiger Charakter, der nicht wegen des Genusses kaut, sondern um der Welt zu zeigen, wie egal ihm alles ist. Der Gummi wurde nicht zu Ende gekaut, sondern noch mit Zuckergehalt ausgespuckt (Ablagerungen); orale Persönlichkeit, wechselhaft.

Die Doppelseite aus der von HOIO gestaltete Ausgabe der Zeitschrift «Schweizer Kunst» zum Thema «Fiktion» (mit dem auch auf dieser Seite vorgestellten «Kauen der Matrosen»).

Siehe auch

First Publication: 6-2003 (vormals PJ047)

Modifications: 12-3-2009, 3-11-2011