Er lässt nichts an sich heran, wendet der Welt den Rücken zu, drückt sich an Felsen, saugt sich fest und gibt jedem zu verstehen, dass er auf Annäherungsversuche keinen Wert legt: Der Seeigel, diese dunkle Kastanie der Meere, hat eine mit Kalkplatten verstärkte Schale, die mit scharfen Stacheln bestückt ist. Die Nadeln sind, wenngleich bei den einzelnen Arten sehr unterschiedlich ausgebildet, meist nicht so fest verankert wie beim Igel und brechen also sehr leicht ab - diese Fragilität hat den geradezu sadistischen Zweck, dass sich ein hungriger Angreifer nicht bloss sticht, sondern unter Umständen mit einem ganzen Mund voller kristallener Nägel davonschwimmt. Fische wissen das - Füsse allerdings nicht, weshalb sich der Seeigel bei Badenden gelegentlich unbeliebt macht.
Wer sich mit einer solchen Bewaffnung durch die Welt schleppt, hat wohl auch etwas besonders Edles zu verfechten. So ist es, und wie so oft in der Natur hat das Kostbarste mit Reproduktion zu tun - dankbarerweise setzt das Geschöpf dabei vor allem auf Masse. So erfolgreich sich der Seeigel im Tierreich verteidigen kann - menschlichen Werkzeugen hat er nur wenig entgegenzusetzen. Man hält den pikenden Ball mit einem dicken Tuch in der einen Hand und schneidet mit einer Schere ein Loch rund um den bauchnabelartigen, stachelfreien «Mund» auf der Unterseite - Aristoteles war der Erste, der diesen speziellen Raspelapparat für das Abweiden von Algenbeeten beschrieben hat, weshalb man ihn auf den schönen Namen «Laterne des Aristoteles» taufte.
Eleganter rückt man dem Seeigel mit einem Werkzeug auf den Leib, das die Franzosen erfunden haben und Coupe-oursin nennen - eine Art kräftiger Eierköpfer, der den stacheligen Meeresbewohner mit einem perfekten Schnitt in Schüssel und Deckel zerlegt. Sieht man von ein paar lächerlich kleinen Verdauungsorganen ab, einem Gehänge aus schwarzen Knubbeln, ist das Innere zur Gänze mit einer leuchtenden und etwas porös wirkenden Masse gefüllt, die je nach Art bräunlich, gelblich oder orange sein kann. Sie liegt als ein fünfarmiges Kreuz am Boden der stacheligen Schüssel und sieht ein wenig aus wie eine grosse Walnuss, ein Gehirn oder ein Wesen, das aus fünf rauen Zungen besteht. Bei dieser Masse, die den essbaren Teil des Tieres darstellt, handelt es sich um die Geschlechtsdrüsen, um die Hoden oder Eierstöcke des Seeigels. Sie machen etwa drei Viertel der ganzen Innereien aus - und werden meist roh verzehrt.
Es gibt nur wenige Esswaren, die sich so ostentativ von der Umwelt abkapseln, um nicht selbst zum Futter zu werden. Und diese Abkapselung scheint auch im Duft des Seeigels wiederzukehren, der uns zunächst wie ein intensiviertes und durch eine Art organischen Filter purifiziertes Meerwasser vorkommt - ein durch und durch reiner Geruch. Zu dieser Reinheit und Intensität passt vielleicht auch die Vorstellung der Sacula, dass jeder Seeigel einen unausgesprochen gebliebenen Gedanke bewahre, der von den Stacheln davon abgehalten werde, wieder in den Mund zurückzukehren. Wenn man die Geschlechtsdrüsen (die Franzosen verwenden dafür die deutlich appetitlichere Bezeichnung Corail) kaut, dann entwickeln sie ein Aroma, als habe man das Wesen ein Leben lang mit Roquefort gefüttert - auf eine sehr subtile Weise indes. Manche Arten schmecken aber auch eher nach Flusskrebs. Der Corail ist süss und stellenweise doch auch etwas bitter, er umschmeichelt den Gaumen fröhlich - hat aber auch einen gewissen Ernst. Die Konsistenz gleicht einem festen Schokoladenmousse, ist cremig bis butterig, was mit dem für eine Meeresfrucht relativ hohen Fettanteil zu tun hat.
«Das Samen-Fleisch des Seeigels spricht all meine Sinne an», schreibt Izak Boukman in «L'appétit de la plume» und fährt fort: «Es fesselt mein Auge mit seiner Farbe, es riecht, wie wenn es die Welt von jeder Unreinheit befreien wolle, es zittert unter der Berührung meiner Zunge - und wenn ich es am Gaumen zerdrücke, dann hört es sich wie Meerwasser an, das beim Rückzug der Welle zwischen Felsen hin und her plätschert. Es füllt meinen Mund mit samtweicher Butter aus und schmeckt, als sei Saft aus einem Goldbarren gelaufen, durch den Bauch einer Languste geträufelt und dann ein Jahr lang im Eis eines Gletschers zur puren Völle gereift.»
Nicht alle teilen Boukmans Begeisterung für die Qualitäten des Seeigels. Alexandre Dumas etwa stand der Leckerei eher skeptisch gegenüber: «Ceux que cette espèce de purée vivante ne dégoûte pas, le mangent comme un oeuf à la mouillette», notiert er in seinem 1873 erschienenen «Dictionnaire de cuisine». Diese Skepsis gegenüber dem Seeigel teilt Dumas mit einem Grossteil der Weltbevölkerung, denn die knapp tausend bekannten Arten leben rund um den Globus in nahezu allen Meeren, werden jedoch in den meisten Kulturen nicht verzehrt - wobei einige allerdings auch giftig sind. Kulinarische Bedeutung haben Seeigel vor allem am Mittelmeer, in Chile, Korea und in gewissen Regionen Nordamerikas. Einen ganz besonderen Status geniessen sie in Japan, wo sie Uni genannt werden und in keiner Sushi-Bar fehlen. Zentrum der Uni-Produktion ist die nördlichste Insel Hokkaido, wo man das Fleisch des Seeigels zum Beispiel auch als Donburi auf einer Schüssel mit heissem Reis serviert.
Wer Seeigel nicht roh verzehren will, kann sie auch im eigenen Saft dünsten, in eine Sauce inkorporieren oder eine Gemüsesuppe damit toppen. Für Christian Millau stellt die Verbindung von Seeigel und Hühnerei eine «union plus que parfaite» dar: «Avec trois oursins et deux oeufs par personne, on se gave de bonheur», schreibt er in seinem «Dictionnaire amoureux de la gastronomie».
Im antiken Rom galt der Seeigel vielen als Delikatesse, wie wir aus den Rezepten von Apicius folgern können. Trotzdem war er wohl nicht bei allen beliebt: «Die Eier bei allen sind bitter, und ihrer 5 an der Zahl», schreibt Plinius in seiner «Naturgeschichte». Allerdings war der Stachelhäuter den Alten auf andere Weise dienlich, wie der Gelehrte aus Como weiss: «Man sagt, sie wüssten vorher, wenn ein Meeressturm ausbräche, und bedeckten sich dann mit zusammengetragenen Steinchen, um ihre Beweglichkeit zu hemmen, und zu verhindern, dass ihre Stacheln durch das Umwälzen leiden. Sowie dies die Schiffer gewahr werden, halten sie sogleich das Schiff durch Auswerfen mehrerer Anker an.» Als Wetterprognostiker kann der Seeigel also auch für jene Bedeutung erlangen, die solches Getier als Essware nie an sich heranlassen würden.
Dieser Text erschien erstmals am Samstag, 16. Juli 2014 als Teil der Serie «Mundstücke» (21) im Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung», S. 46.