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Dieser Schmortopf mit Hühnermagen vereint verschiedene Erlebnisse: einen tiefen und energischen Fleischgeschmack, eine erdig-bittere Sauce aus Zitrone und Weisswein, die exotische Fruchtigkeit von Kapern aus dem Salz und das exaltiert-ätherische Parfum von Majoran. (Zürich, Januar 2015)

Gésiers d'archosaure «Domino»

Hühnermägen mit Zitrone, Kapern und Majoran

Diesen Schmortopf mit Hühnermagen verdanken wir einer Inspiration aus dem Restaurant «Chez Omèr» in Port-Louis. Küchenchef Walter Lessing wollte uns das Rezept für seine Gésiers d'archosaure «Domino» zwar nicht verraten, doch wir haben es nach einigen Versuchen wohl ziemlich erfolgreich rekonstruiert.

Der Schmortopf hat einen tiefen, eher dunklen und dabei doch sehr energischen Fleischgeschmack, die Stücke sind zugleich zart und knackig. Zitrone und Weisswein verbinden sich mit dem Fleischsaft zu einem erdigen Aroma mit gut eingearbeiteter Säure, die Chilis steuern eine leichte Schärfe bei. Die Hühnermägen und wohl auch die Zitrone schwitzen während des Kochens gelatinöse Substanzen aus, welche der Sauce zusammen mit den Schalotten eine schöne Struktur geben. Die Karotten nehmen etwas von den Saucenaromen auf und geben ihrerseits Süsse ab. Aus diesem stabilen Grundgeschmack schiessen die exotische Würze der Kapern und die ätherisch-leichtsinnige, heftig parfümierte Frische des Majoran wie Feuerwerksraketen heraus. Man nimmt jeden Bissen in mehreren Stufen wahr: Erst weht einem der Majoran an, danach glucksen die Kapern am Gaumen vorbei – und erst dann legen sich Fleisch und Sauce majestätisch in den Mund.

Die Geschichte dieses Rezepts reicht, so könnte man sagen, einige Millionen Jahre zurück, bis ins Mesozoikum nämlich, ins Erdmittelalter, das nach dem grossen Massenaussterben vor gut 250 Millionen Jahren begann und vor 66 Millionen Jahren endete. Während grosser Teilen dieser Erdmittelzeit waren die Archosauria die dominierende Gruppe von Wirbeltieren, die das Land und den Luftraum beherrschten. Die Archosaurier leben, im Unterschied zu vielen anderen Saurier-Arten, auch heute noch fort – namentlich etwa in der Gestalt von Krokodilen und Vögeln. Zu den rezenten Archosauriern zählt auch das Haushuhn, was sich unter anderem darin zeigt, dass es sich beim Verdauen von Magensteinen, sogenannten Gastrolithen helfen lässt. Manuel S. Domino, nach dem dieses Rezept benannt ist, war ein Spezialist für Archosaurier. Wie so oft bei Walter Lessing hat das kleine Rezept also eine grosse Geschichte.

Nichtsdestotrotz ist es sehr einfach zu kochen – vorausgesetzt, man kann sich Hühnermägen besorgen, bereits gereinigte im besten Fall. Die Kochzeit allerdings ist ziemlich lang. Sie hängt von der Grösse der Mägen ab und offenbar auch von der Lebeweise resp. Haltung der Tiere. Je nachdem sind die Mägen schon nach einer guten Stunde ziemlich weich – oder aber sie wollen deutlich länger geschmort werden. Am besten prüft man von Zeit zu Zeit mit einem Messer, wie zäh sie sich noch anfühlen. Auch die Zitrone verändert sich während der langen Kochzeit, sie konfiert gewissermassen im eigenen Saft. Das heisst, sie wird ganz weich und ein wenig glasig, fast als wäre sie vorgängig eingelegt worden.

Die Zitrone steuert eine schöne Säure bei, die indes im fertigen Gericht gut eingebunden ist. Die Schale der Frucht sorgt aber auch für eine ganz leichte Bitterkeit, die den Charakter dieses Schmortopf mit bestimmt. Wie viel zusätzliche Bitterkeit und wie viel mehr Aroma von geschmorter Zitrone man haben möchte, kann jeder Esser individuell dadurch steuern, dass er kleine Stücke von der Zitrone abschneidet und mit auf die Gabel zu Fleisch und Sauce häuft. Je nach Zitrone kann es allerdings auch passieren, dass das ganze Gericht eine etwas stärker spürbare Bitterkeit hat (das ist uns bisher erst ein Mal passiert und wir fanden es durchaus interessant). Wer indes mit Widerwillen auf alles reagiert, was auch nur ganz leicht bitter schmeckt, der sollte statt der ganzen Zitronen nur den Saft beigeben – das Resultat wird allerdings nicht das gleiche sein.

Im «Chez Omèr» werden die Gésiers d'archosaure «Domino» mit Kartoffelstock serviert – wir reichen einfach Pellkartoffeln dazu, die man mit der Gabel auf dem Teller zerdrücken kann.

Kochzeit 100 bis 130 Minuten

Zutaten (für 4 Personen)

800 g Hühnermägen, geputzt

2 EL Olivenöl (oder auch etwas mehr)

250 g Schalotten, zur Hälfte fein gehackt, zur Hälfte der Länge nach in Streifen geschnitten

4 dl Weisswein

2 dl kräftige Hühnerbrühe

1 EL Zucker

4 kleine Karotten zu je gut 50 g, geschält, von Spitze und Strunk befreit, ganz

1 nicht zu grosse, nach Möglichkeit unbehandelte Zitrone von etwa 150 g, gut unter heissem Wasser abgewaschen, der Länge nach in vier Schnitze zerteilt

3 getrocknete Chilis, ganz

75 g Kapern aus dem Salz, gut abgespült

15 g Majoran, abgerebelt

Zubereitung

  1. Die Hühnermägen mit Küchenpapier gut trocken tupfen. Öl in einem schweren Topf erwärmen und die Mägen darin etwa 5 bis 7 Minuten anbraten – je nach Grösse des Topfes am besten in zwei Durchgängen.
  2. Schalotten unterheben und kurz anziehen lassen. Weisswein, Hühnerbrühe und Zucker beigeben, umrühren und dabei eventuellen Satz vom Boden loskratzen.
  3. Karotten, Zitrone und Chilis dazugeben, kurz aufkochen lassen, Hitze reduzieren und Deckel aufsetzen. 90 Minuten über kleiner Flamme schmoren lassen, gelegentlich umrühren – je nach Grösse und Beschaffenheit der Mägen muss das Gericht auch zwei Stunden oder sogar noch länger schmoren.
    Wie bei vielen Schmorgerichten hängt vieles vom Topf ab, den man verwendet. In einem schweren Topf mit einem Deckel, der das Kondenswasser wieder in das Gargut zurückführt, kann das Fleisch stundenlang vor sich hin köcheln – dabei bleibt die Menge der Flüssigkeit konstant oder nimmt sogar ein wenig zu. Besitzt man keinen solchen Topf, dann muss man vermutlich immer wieder Flüssigkeit angiessen.
  4. Wenn das Fleisch ausreichend weich ist, Deckel abheben, Hitze ein wenig erhöhen und die Flüssigkeit etwa fünf bis zehn Minuten lang reduzieren, bis eine leicht dickliche Sauce entsteht.
  5. Kapern und Majoran beigeben, Hitze stoppen, kurz umrühren und servieren. Es ist wichtig, dass der Majoran nicht mitkocht, denn er ist kaum hitzebeständig.

Auch für die Gésiers d'archosaure «Domino» gilt die universelle Schmorfleisch-Regel, wonach das Gericht an den Folgetagen noch besser schmeckt. Der Majoran allerdings verliert beim Aufwärmen seine Würzkraft und will also erneuert werden.

Es bietet sich an, die Mägen beim Anbraten sorgfältig über den Boden des Topfes zu verteilen. (Zürich, Januar 2015)
Zu Beginn schwimmen Fleisch und Gemüse in ziemlich viel dünner Flüssigkeit, die jedoch mit der Zeit immer mehr Struktur bekommt und am Schluss kurz eingedickt wird. (Basel, Januar 2015)
Wir servieren dieses Schmorgericht gerne mit Pellkartoffeln, die man dann auf dem Teller mit der Gabel zerdrücken kann. (Zürich, Februar 2012)
Die Schale der Zitrone, die mit dem Magen geschmort wird, verleiht dem Gericht eine ganz leichte Bitterkeit. Wir geben auf alle Teller auch ein Zitronenviertel. Jeder Esser kann davon kleine Stücke abschneiden und mit Fleisch und Sauce auf die Gabel häufen – so kann er steuern, wie viel zusätzliche Bitterkeit und wie viel mehr Aroma von geschmorter Zitrone er haben möchte.
Notizen zur Reise ins Erdmittelalter – HOIO's Arbeitsblatt zu den Gésiers d'archosaure «Domino». (Februar 2015)

First Publication: 21-2-2015

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