Was gewöhnlich als Kalbskopf angesprochen wird, ist im Grunde nur ein Teil des Kopfes, nämlich die Gesichtshaut – in der Metzgersprache wird dieser Teil ziemlich treffend als Maske bezeichnet. Vor dem Verkauf werden die Haare und Borsten vom Kopf des Kalbs geschabt, dann löst der Metzger die Haut mitsamt der dahinter verborgenen Schicht aus Muskelfleisch, Bindegewebe und Fett vom Schädelknochen. Die weiteren Teile des Kopfes (namentlich Gesichtsbacken, Hirn und Zunge) werden meist separat verkauft.
Heute wird Kalbskopf in der Schweiz meist nur in kleinen Stücken angeboten, und auch die sind oft nur schwer zu bekommen – noch komplizierter ist es, sich eine ganze Maske zu besorgen. Früher war es offenbar sogar üblich, ganze Kalbsköpfe mitsamt Knochen, Hirn etc. zu verkaufen – das Time-Life-Buch über «Innereien» von 1981 erklärt jedenfalls ausführlich, wie man bei einem Kalbskopf die Knochen auslöst.
Die Kalbskopfmaske wird heute meist schon vom Metzger ausgiebig gewässert – trotzdem blanchieren wir das Fleisch in der Regel etwa 5 Minuten und spülen es dann ab, wobei einige Trübstoffe entfernt werden. Das Fleisch muss zwei Stunden gekocht oder bis drei Stunden geschmort werden – dabei schwillt die eher dünne Haut zu einer dicken Schicht von gräulich-bräunlicher Farbe an. Diese ist sehr zart und feucht, von einzigartiger, gelatinöser Konsistenz. Für den Eindruck, den das Fleisch im Mund hinterlässt, ist diese Schicht entscheidend – sie dominiert das daran hängende Muskelfleisch. Die meisten Stücke vom Kalbskopf wirken als bestünden sie aus reinem Fett, beim Beissen denkt man auch manchmal an mastige Torten oder Marzipan. Doch ist es nicht Fett, was man zwischen den Zähnen hat – Fett finden sich allenfalls hinter dem Muskelfleisch und kann vor dem Kochen weggeschnitten werden. Tatsächlich hat das Fleisch vom Kalbskopf im Mittel auf 100 g nur 14 g Fett, davon sind 5 g ungesättigte Fettsäuren – das entspricht in etwa einem Stück vom Schweinshals. Zum Vergleich: 100 g Leinsamen-Cracker von «Darvida» haben 12 g Fett im Gepäck.
Viele Klassische Rezepte lassen den Kalbskopf in einer Brühe garziehen – und servieren ihn dann mit einer Sauce. Kalbskopf lässt sich aber auch wunderbar schmoren – und nimmt die Aromen der Würzzutaten sehr gut an.
In der Schweiz ist Kalbskopf ein (allerdings nur noch selten angebotener) Klassiker der Bistro-Küche – und wird meist mit einer Sauce vinaigrette serviert. Im «Kochbuch» von Elisabeth Fülscher zum Beispiel finden sich verschiedene Kalbskopf-Rezepte – etwa Kalbskopfsalat (Nr. 435) oder Kalbskopf-Sulz (Nr. 164).
In Frankreich wird die tête de veau (oder ein Stück davon) traditionell um die Zunge des Kalbs gewickelt und mit einem Netz zu einer Art Braten geschnürt, der dann etwa drei Stunden in siedendem Wasser gart. Dazu gibt es meist eine Sauce Ravigote oder Gribiche. Heute scheint dies die übliche Zubereitungsweise – und es ist zum Beispiel auch die einzige Form, in der Stéphane Reynaud («Le Livre de la Tripe») den Kalbskopf kennt. In älteren französischen Kochbüchern finden sich allerdings meist noch viele andere Zubereitungsweisen – bei Escoffier («Guide culinaire») etwa gibt es die Tête de veau «à l'Anglaise», «financière», «Godard», «en tortue», «à la vinaigrette ou à l'huile», und Alibab («Gastronomie pratique») kennt sogar ganze zwölf Rezepte.
Auch Wolfram Siebeck kennt nur den Kalbskopf, wie er in Frankreich angeboten wird («Verpönte Küche», S. 52) – und bei Thomas Ruhl («Gutes Fleisch») zum Beispiel kommt er gar nicht vor. Auch in England scheint der Kalbskopf heute nicht sehr verbreitet. Das sonst sehr grossherzige «Offal» von Henissa Helou enthält jedenfalls kein einziges Rezept – und auch bei Fergus Henderson («Whole Beast») hat der Kalbskopf keinen Platz.
In Vergessenheit geraten ist auch die «Mockturtlesoup» – eine aus England stammende Suppe, die meist Kalbskopf verwendet, um damit Textur und Geschmack von Schildkrötenfleisch zu imitieren. Mockturtlesuppe war auch in Deutschland lange beliebt – ein Rezept findet sich zum Beispiel auch im «Praktischen Kochbuch» von Henriette Davidis.
First Publication: 11-1-2014
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