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Meine Mutter versucht, ihr vergleichendes Tagebuch für die Jahre 2013, 2014 und 2015 nachzuführen. Doch sie kommt mit den Tagen durcheinander. (Montag, 12. Januar 2015)

79. Flasche

Warte noch

Alsace Riesling Barmès Grand Cru Hengst 2010

Von aussen unbewegt riecht der Wein dezent nach einem kühlen Steinboden. Mit der Bewegung tritt eine dunkle Zitrusnote dazu – eine Pampelmuse, die ein wenig herumgestanden ist. Ich rieche frisch gewaschene und getrocknete Wäsche, einen Bademantel in einem sorgfältigen Hotel. Im Mund ist der Wein eher süss mit fein eingebundener Säure, die sich beim Kauen stärker in den Vordergrund schiebt. Von innen riecht der Wein, als habe man einen Pfirsich auf einer Tischplatte aus Schiefer zerquetscht und dann die Sonne drauf scheinen lassen.

Gestern und auch heute war ich wieder bei meiner Mutter. Sie wird jetzt täglich deutlich schwächer – und wirkt oft ganz verwirrt. Ich sitze auf der Kante ihres Bettes. Ihre Augen sind dunkel und starr auf mich gerichtet. Sie wirkt, als suche sie nach einem Gedanken, der ihr abhanden gekommen ist. «Warte», sagt sie: «warte jetzt». Ich warte. Sie blinzelt nicht. Und auch ihr Mund, der sonst ständig mit der eigenen Trockenheit beschäftigt ist, bewegt sich nicht. «Warte, warte doch». Ich kann in der Tiefe ihrer Augen nichts erkennen. Aber ich kenne diese Augen, die Art, wie sie in ihren Höhlen liegen – es sind dieselben Augen, die mich auch aus dem Spiegel heraus ansehen wenn ich mich rasiere oder mir die Zähne putze.

«Muss ich jetzt sterben?», fragt sie mich. «Ich weiss es nicht», sage ich: «Ich entscheide das nicht – noch weniger als du.» Ich wische ihr die Haare aus dem Gesicht und streichle ihre Schläfen, ihre Wangen, ihre Stirn. Ich mag mich nicht erinnern, dass ich ihr Gesicht je mit den Händen berührt hätte – oder sie das meine. Wir bleiben in unserer Familie gerne auf Distanz. Aber jetzt legen sich meine Hände wie von alleine an ihren Kopf. «Warte, warte noch» – ich weiss nicht, ob sie mich meint, sich selbst, oder den Tod.

Mit der Zeit kommt in dem Riesling eine Würze dazu, wie sie ein gut durchgezogener Zitronenkuchen haben kann – dazu eine Idee von Brennsprit. 


Getrunken am Montag, 12. Januar 2015 in der Küche meiner Wohnung über dem Bahnhof Tiefenbrunnen in Zürich (Schweiz). Gekauft bei «Butique Clos 3/4» in Mulhouse (€ 27.00 im August 2014).

Nächste Flasche

Alsace Riesling Barmès Hengst Grand Cru

AOC, 2010, 13.5% Vol.

100% Riesling

Weisswein aus dem Elsass (Frankreich), produziert von Geneviève & François Barmès in Wettolsheim (auf Karte anzeigen). Vin issu de raisins de l’agriculture bio-dynamique.

First Publication: 12-1-2015

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