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Und plötzlich habe ich auf dem Nagel meines grossen Zehs eine jener nebelverhangenen Seelandschaften gesehen, wie sie asiatische Meister mit nur wenigen Strichen zu evozieren verstehen. (Sonntag, 9. August 2015)

92. Flasche

Die Landschaft auf meinem grossen Zeh

Alsace Riesling Kuster Grand Cru Sporen 2009

Von aussen unbewegt riecht der Wein nach einer säuerlichen Ananas. Mit der Bewegung kommen mineralische Noten dazu – und eine Idee von Bienenwachs. Auch etwas von einer Umkleidekabine in einer Badeanstalt ist auszumachen, Chlor, auf Haut verdünnt – und Feuchtigkeit. Im Mund ist der Wein eher süss und klingt lange nach, wenig aggressiv an den Schleimhäuten. Von innen dominiert eine reife Ananas, die man mit einem Schlückchen Bitterorangensaft auf den Löffel nimmt. Beim Kauen spielt sich eine Petroleum-Note mit ins Scheinwerferlicht – oder ist es eine leicht geröstete Mandel, die man in Milch ausgekocht hat? Der Wein hat etwas Frivoles, Exaltiertes – und ist ein kleinwenig klebrig.

Es muss während einer besonders sportlichen Wanderung im Frühling passiert sein, dass ich mir auf dem grossen Zeh am linken Fuss so etwas wie einen Bluterguss zuzog – auf jeden Fall hielt ich für einen solchen, was ich eines Tages auf dem Nagel entdeckte: dunkelbräunliche Verfärbungen, die sich nicht wegschrubben liessen. Mit der Zeit sind die Verfärbungen etwas ausgebleicht und langsam in Richtung Nagelkante gewandert – aber sie sind immer noch da.

Von Zeit zu Zeit frage ich mich, ob es sich bei den Spuren wirklich nur um einen normalen Bluterguss handelt. Aber ich frage mich bei vielen Dingen, die sich in meinem Körper manifestieren oder auf ihm sichtbar werden, ob das wohl «normal» sei. Manchmal werfe ich auch einen weniger besorgte Blick auf die Zehe und finde dann, sie trage doch eigentlich so etwas wie eine feine Dekoration, eine Art Tattoo, eine geheimnisvolle Zeichnung von der Hand eines unbekannten Künstlers. Heute Abend, als ich meine Füsse aus den Wanderschuhen befreite, hat mich die Verzierung an die Zeichnung auf den Schalen von gewissen Venusmuscheln (Palourdes) erinnert, von denen manche ja aussehen wie japanische Tusche-Malereien. Und plötzlich habe ich da eine jener nebelverhangenen Seelandschaften gesehen, wie sie asiatische Meister mit nur wenigen Strichen ihres Pinsels zu evozieren verstehen. Seither huscht mir die Frage nach, wie das wohl wäre, wenn ich in die mystische Landschaft auf meiner grossen Zehe hineinwandern könnte. Was würde ich sehen, wenn der Nebel sich bewegte? Was für Geräusche würde ich hören? Wäre ich alleine in dieser Welt – oder wären da andere Menschen? Würden mich Kranich anstarren? Wie kühl wäre es wohl? Und was für Gerüche lägen in der Luft?

Sicher nicht Benzin wie bei diesem Wein, der mit Zeit seinen Zapfsäulen-Charme immer stärker ausspielt. Warum gibt es eigentlich keine Petroleum-Bonbons? Wenn man ganz intensiv kaut, dann beginnt sich der Riesling auf der Zunge leicht zu kräuseln – vielleicht ist da doch ein Schluck Benzin mit von der Partie. Die Wärme tut ihm nicht gut.

Getrunken am Sonntag, 9. August 2015 am Fenster im Wasserzimmer meiner Wohnung über dem Bahnhof Tiefenbrunnen in Zürich (Schweiz). Gekauft bei «Terroirs et Propriétés» in Kaysersberg (€ 13.00 im April 2015).

Nächste Flasche

Alsace Riesling Claude Kuster Grand Cru Sporen

AOC, 2011, 13% Vol.

100% Riesling

Weisswein aus dem Elsass (Frankreich), produziert von Claude Kuster. Wo der Wein genau produziert wird, steht nicht auf der Flasche, aber die Apellation «Sporen» liegt auf dem Gebiet von Riquewihr (auf Karte anzeigen). Auf der Flasche steht ausserdem «Mis en bouteille par J G à F 68340» und «Séléctionnée par Terrpoirs et Propriétés à Kaysersberg».

First Publication: 9-8-2015

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