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In seiner 24. «WoZ»-Kolumne vom 14. September 2006 begibt sich José Maria auf die Suche nach im Meer treibenden Bordeaux-Flaschen, denkt über Gottes Ordnung der Schamzonen nach – und geht dabei selbst über Bord.
Wasser tropft aus dem Rumpf eines Schiffes.

24. Auf der Suche nach Bordeaux («Der Liebe Gott und seine Sachen»)

Der Schlag kam aus dem Nichts. Eben noch stand ich, wenigstens mit dem rechten Fuss, fest auf den fein gehobelten Planken der «Encore» – derweilen ich versuchte, mit dem linken Bein in meine neue, mittelmeerblaue Badehose zu steigen. Eine solche Operation ist auch unter gewöhnlichen Umständen logistisch kaum zu bewältigen: eine Hand hält die Badehose, eine Hand schützt die Zone mit einem Tuch vor möglichen Blicken – und welche Hand zieht mir nun die Boxershorts runter? Eben. Dass der Liebe Gott etwas zur Schamzone erklärt hat, das so ungünstig liegt, habe ich nie ganz verstanden – die Knie, ein Ellbogen oder die Ohren wären wesentlich einfacher zu bedecken als die anspruchsvoll geformte Mitte unseres Körpers. Wären etwa die Ohren unsere Schamzone, dann hätte das ausserdem den Vorteil, dass das ohröse Bikini bei einem vorsichtigen Bade nicht einmal nass zu werden brauchte. Politiker könnten ihre Kampagnen dadurch finanzieren, dass sie auf ihren Wahlplakaten Werbung für Intimmode machen. Und die Regenbogenpresse hätte endlich Skandälchen so viel sie will: «Papst am Strand von Ostia, unten mit, doch Ohren ohne».

Egal. All dies spielte im Moment keine Rolle. Splitterfasernackt flog ich durch die Luft. In der rechten Hand die Badehose, in der linken das Tuch. Vielleicht einen Schrei auf den Lippen. - «Achtung Baum»: Ich hatte die Warnung zwar gehört, doch war ich - mit nur einem Fuss an Bord – nicht in der Lage gewesen, schnell genug zu reagieren. Überhaupt war dieser ganze Ausflug doch eine ziemliche Schnapsidee. Vor zwei Wochen hatten Fischer etwas südlich von Bouden einen Schiffbrüchigen aus dem Wasser gezogen - der Mann trieb durch den Atlantik auf zwei Dutzend leeren Bordeaux-Kisten, an denen er sich mit allerlei Tauen festgezurrt hatte. Er war ohnmächtig. In seinen Taschen fand man das Foto einer jungen, irgendwie orientalisch aussehenden Frau, ein Paket «Gitanes» und ein kleines Heft, ein auf Deutsch geführtes Tagebuch mit französischen Kochrezepten sowie englischen und chinesischen Notizen aller Art. Aus den Aufzeichnungen konnte man schliessen, dass er – wohl als Koch - auf einem Schiff namens «Voile Liberté» unterwegs gewesen war. Und aus den Bordeaux-Kisten konnte man folgern, dass man an Bord dieses Segelbootes nicht nur viel, sondern vor allem ziemlich erlesen getrunken hatte: «L’Eglise-Clinet», «Montrose», «L’Evangile», «Lafleur», «Angélus» und «Tertre-Rôteboeuf» hiessen die Châteaux, auf denen der Mann durch das Salzwasser trieb.

Der Koch selbst erinnerte sich an nichts. Als er im Hospital von Port-Louis aus seiner Ohnmacht erwachte, wusste er weder seinen Namen noch erinnerte er sich an seine Vergangenheit oder seine Muttersprache. Er redete ein gebrochenes Englisch mit spanisch wirkendem Akzent – Spanisch aber konnte er nicht. Die Polizei fand heraus, dass man in der Bucht von Bouden tatsächlich eine «Voile liberté» gesehen hatte: Mehrere Tage lag sie da vor Anker und manche meinten, sie habe beschädigt gewirkt. An einem Morgen nach einer besonders stürmischen Nacht aber war sie plötzlich verschwunden. – Noch bevor ich auf die Oberfläche des Wassers traf, spürte ich jene kühlere Schicht von Luft, die an warmen Tagen wie ein thermischer Strich zwischen Himmel und Ozean liegt. Alle Muskeln meines Körpers zogen sich zusammen, ganz als gälte es wie ein Geschoss durch eine Panzerglasscheibe zu fliegen.

Dass Manon mich zu dieser Bootstour überreden konnte, war einzig und allein der kühnen Biegung ihre Oberlippe zu verdanken. Wann auch immer ich diese Kurve sah, war ich zu allem bereit – vor allem auch zu Dingen, die ich eigentlich gar nicht wollte. Und sie wusste das ganz genau. «Gehen wir Bordeaux fischen» hatte mich ihre Stimme gefragt während ich bei meinem ersten Crème im Hafen von Port-Louis sass und beobachtete, wie sich die Morgensonne ganz langsam von den Zehen her dem kleinen Leberfleck näherte, an dem ich meinen eigenen Fuss jederzeit unter Tausenden wiedererkennen würde. «Nein», dachte ich, «auf gar keinen Fall». Dann blickte ich auf, sah die Kurve und sagte «ja, natürlich, selbstverständlich, gern».

Jetzt tauchte ich mit der Schulter voran in die Fluten ein und merkte, wie mir der Widerstand des Wassers das Badetuch aus der Hand riss. Es war kalt und ich schloss die Augen in der Hoffnung, nicht gerade mit einem Haifisch zusammenzustossen (seit ich auf einer Japan-Reise ein Walsteak ass, werde ich das Gefühl nicht mehr los, dass sich das Meer irgendwie an mir rächen will). – Manon besass nebst ihrer Oberlippe auch noch ein Boot im Hafen von Bouden – eine kleine Jacht mit einem Rumpf aus Stahl und einem rötlich-braunen Holzdeck. Eigentlich hatte sie es «Encornet» («Tintenfisch») taufen wollen – doch beim Applizieren des Namens hatte sie zu wenig Platz berechnet und so hiess das Schiff nun eben bloss «Encore». Wie sie auf die Idee gekommen war, nach im Meer schwimmenden Bordeaux-Kisten von der «Voile Liberté» zu suchen, war schwer zu sagen: «Wenn solche Kisten einen Mann tragen können, dann doch wohl auch ein paar Flaschen», lautete ihre These. Und also kreuzten wir als önologische Schatzsucher stundenlang vor der Küste von Bouden und liessen unsere Augen wachsam über die Meeresoberfläche gleiten. Wir entdeckten eine leere Kühlbox, eine grüne Fischerboje, diverse Palmwedel, einen halben Gartenstuhl aus Plastik, ein ungeöffnetes Pack mit Windeln, die Reste einer Blumengirlande, eine leere Mineralwasserflasche – aber natürlich keinen Wein. Der Wind war den ganzen Tag lang nie besonders stark gewesen – irgendwann aber hörte er ganz auf zu blasen. Und ich beschloss, ein Bad zu nehmen.

Knapp zwei Meter unter der Wasseroberfläche bekam mein Körper wieder Auftrieb. Ich blickte nach oben und es war mir als sähe ich durch ein dickes Glas hindurch das Gesicht von Manon – es wirkte wie ein ziemlich nachlässig hingepinseltes Aquarell. Die gefährliche Oberlippe war so einigermassen entschärft. Sekunden später aber schoss mein Kopf aus dem Wasser. Ich prustete, ging nochmals kurz unter, kam wieder hoch. Und jetzt spürte ich, wie sich Manons Hände an meinen Ohren festkrallten und sie mich so aus dem Wasser zu zerren versuchte. Irgendetwas quietschte sehr unangenehm. Vielleicht, so schoss es mir durch den Kopf, hatte der Liebe Gott seine Sache doch nicht so schlecht gemacht.

Dieser Text von José Maria wurde erstmals publiziert in: «Die Wochenzeitung», 14. September 2006, Nr. 37 / S. 18.

«Achtung Baum» – gehört hatte ich die Warnung schon, allein…
Gischtspritzer vor düsterem Horizont.