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In seiner 10. «WoZ»-Kolumne vom 3. Juni 2004 unterhält sich José Maria mit der Kuratorin Marianne Burki über das Thema Religion. Nach Ansicht von Maria sollten Religion und Spiritualität Mittel sein, Normen in Frage zu stellen, die düsteren Ritter des Sachzwangs als Windmühlen zu enttarnen und dem Individuum Platz für eigene Entwicklungen zu verschaffen.
Kreuz mit Jesus vor blauem Himmel.

10. Religion und Kunst («Fragezeichen über dem Altar»)

Marianne Burki: Wir haben uns in letzter Zeit ab und zu über Religion und Spiritualität unterhalten und die Gedanken so richtig ziehen lassen. Aber wie sieht denn das konkret aus: Hättest du Lust, einen Auftrag für die künstlerische Gestaltung einer Kirche anzugehen?

José Maria: Als Atheist bin ich da natürlich zunächst verführt, sofort mit einem freudigen «ja» zu antworten. Dann lehne ich mich zurück und lasse vor meinem inneren Auge all die herrlichen kleinen Blasphemien Gestalt annehmen, die sich in einem solchen Zusammenhang realisieren liessen. Nach einigen Momenten aber nimmt der Genuss auch schon ab - scheint Boshaftes in diesem Zusammenhang doch heute fast zu einfach. – Einst war die Kirche ja ein riesiger Machtapparat – heute aber scheint sie mehr und mehr zu einem empfindlichen Pflänzchen zu werden, das man in gewissen Gegenden fast schon unter Schutz stellen muss. Auch war die Kirche einst eine wichtige Auftraggeberin – heute aber ist mir kaum ein Künstler bekannt, der für die Kirche arbeitet. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass die Kunst seit der Moderne durchaus religiöse Funktionen übernommen hat, also quasi zur Konkurrenz wurde. Ein Verhältnis zwischen Kirche und Kunst scheint heute gar nicht mehr wirklich zu existieren. Kommt das vielleicht daher, dass sich Kunst und Religion zu ähnlich sind? Oft muss man ja auch ganz fest an die Kunst glauben – sonst würde man vermutlich nicht all die Mühen auf sich nehmen, die nötig sind, damit man Kunst ein wenig versteht.

Aber es werden ja nach wie vor Kirchen gebaut und geschmückt: Was tust du denn, wenn dich eine Kirche beauftragt, einen Altarraum zu gestalten?

Wahrscheinlich würde ich ablehnen. Bei der Gestaltung eines Altarraums bestünde die Hauptaufgabe heute ja wohl am ehesten darin, niemanden in seinen religiösen Gefühlen zu stören, niemanden bei der Ausübung seiner religiösen Riten zu irritieren etc. Die christliche Religion erzählt ja ganz viele eigene Geschichten, da wären meine Storys wohl irgendwie überflüssig. Aber wie würdest du denn vorgehen – zum Beispiel als Kuratorin eines solchen Projekts?

Nun, ich käme natürlich auch in eine sehr anregende Situation. Ich würde vorerst mal sehr ausschweifende Gespräche mit Priester, Pfarrer oder Pfarrerin führen, was sie mit Kunst, Religion und Kirche heute anfangen. Und würde mal aus der aktuellen Kunst Religiöses und Spirituelles rausfiltern, das gäbe schon sehr viel zu tun. Aber du scheinst dich ja nicht für diese Verbindung zu interessieren?

Doch, doch, du hast recht, wahrscheinlich müsste man einen solchen Auftrag mit einer grundsätzlichen Befragung aller Beteiligten beginnen. Vielleicht würde es dabei bleiben. Vielleicht müsste man aber aus diesen Diskussionen heraus auch etwas generieren, das im Kirchenraum sichtbar wäre: Zum Beispiel könnte man vorschlagen, über dem Altar anstelle des Kreuzes ein grosses Fragezeichen aufzuhängen. – Naja, vielleicht ist das auch schon wieder allzu dialektisch. Aber wenn ich es mir genau überlege, dann würde ich auf jeden Fall Eingriffe bevorzugen, die nur vorübergehend etwas sichtbar werden lassen – allein schon, weil ich mich als Künstler dem Ewigkeitsanspruch der Kirche nicht gewachsen fühle.

Wie sieht es denn mit deinen persönlichen Bezügen zu Religion und Spiritualität aus? Haben sie Einfluss auf dein künstlerisches Schaffen?

Als Kind habe ich an den Lieben Gott geglaubt - soweit ich mich erinnere. Als Teenager habe ich von geheimnisvollen Ritualen geträumt, in deren Verlauf es vor allem massenweise schmutzigen Sex gab. Später habe ich immer wieder Phasen durchlebt, in denen ich bei einzelnen Weltreligionen Antworten auf bestimmte Fragen suchte – doch das waren immer eher kurze, ziemlich verzweifelte Momente. Heute bin ich in der paradoxen Situation, dass ich zwar ein überzeugter Atheist bin, gleichzeitig aber ein wirklicher Fan von Ritualen wie sie fast alle Religionen anbieten. Im Rahmen von spirituellen Praktiken können wir nämlich neue Denk- und Handlungsmöglichkeiten ausprobieren. Und Religionen bieten dabei in ähnlicher Weise einen schützenden Rahmen wie er von der Kunst für den Künstler bereitgestellt wird.

Hat diese Konzentration nicht etwas enorm Selbstbezogenes? Es geht hier doch um die aktive Entscheidung, sich dem Geistigen, dem Selbst, dem Nichts, dem Krafttier, der Kunst - je nach Ausrichtung und Neigung – bewusst und für eine bestimmte Zeit ausschliesslich zuzuwenden.

Meiner Ansicht nach kann man das, was man bei der Auseinandersetzung mit sich selber findet, nicht ernst genug nehmen. Es gibt ja eine Art umgekehrte Chaos-Regel, die für die meisten von uns gilt: Wenn wir nicht aufpassen, dann fügen wir uns automatisch in herrschende Normen ein. Wenn uns eine Religion dazu anregt, diese Auseinandersetzung mit uns selbst zu suchen, dann ist das schon mal gut. Religion und Spiritualität müssen Mittel sein, Normen in Frage zu stellen, die düsteren Ritter des Sachzwangs als Windmühlen zu enttarnen und dem Individuum Platz für eigene Entwicklungen zu verschaffen – einen anderen Sinn für so etwas wie Religion kann ich nicht sehen. Ähnliches könnte man auch über Kunst…

Stop. Genug. Also wenn es einen Lieben Gott gibt, dann müsste er an dieser Stelle eigentlich laut und etwas unwirsch «José!» brüllen – und warnend käme sein Zeigefinger aus einer Wolke hervorgeschüttelt. Also korrigiere ich: Wenn Religion einen Sinn hat, dann hat das mit Glauben ja wohl nichts mehr zu tun – ganz ähnlich verhält es sich mit Kunst. Kunst ist nur Kunst solange sie begrifflich nicht wirklich zu greifen ist – und wenn wir etwas wissen, brauchen wir nicht daran zu glauben. Aber jetzt, oh Gott, bin ich mir wohl selbst zu hoch – für das Leben hienieden zumindest. Halt mich bloss fest…

Dieser Text von José Maria wurde erstmals publiziert in: «Die Wochenzeitung», 3. Juni 2004, Nr. 23 / S. 21.

Die düsteren Ritter des Sachzwangs als Windmühlen entlarven.
Ein Priestergewand hängt an einem Haken.