D | E  

Neuste Beiträge

HOIO und Cookuk

  • Das Tagebuch von Raum Nummer 8 (Susanne Vögeli und Jules Rifke)
  • HOIO-Rezepte in der Kochschule – das andere Tagebuch

Etwas ältere Beiträge

Grosse Projekte

Mundstücke

Gewürze aus Santa Lemusa

Abkürzungen

In seiner 1. «WoZ»-Kolumne vom 26. September 2002 versucht José Maria dafür zu argumentieren, dass eigentlich jeder Kunstkritiker viel lieber ein Künstler wäre.
Geier im Profil.

1. Kritiker und Künstler («Die Wurst vor der Nase»)

Ich weiss, ich weiss: Es ist ein uraltes Klischee. Dass Kunstkritiker frustrierte Künstler sein sollen, das geistert als kleine Gemeinheit nun schon lange durch die Diskurse. Und es hat sich erledigt – definitiv. Wer heute noch davon spricht, der hat nichts, aber auch gar nichts verstanden. Lassen wir das Thema also bleiben, wo es ist – in der Mottenkiste überholter Vor-Urteile. Ja, ja. Leider nur hatten wir eine üble Nacht, sind wir in unseren Torkelträumen über verrottete Schatullen gestolpert, endlich pitschnass aufgewacht mit nur einem vollends idiotischen Gedanken im Kopf: Und wenn doch etwas daran wäre?

Künstler haben in unserer Gesellschaft quasi die amtliche Erlaubnis, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Ja man erwartet von ihnen geradezu, dass sie malen, was sie fühlen – installieren, filmen oder performen, was sich bei Forschungsreisen durch ihr Inneres zur Ahnung verdichtet hat. Künstler sollen sich mit ihrem Dasein als Menschen beschäftigen, wach sein für das, was sie spüren – und seien es noch so geringe Impulse. Das Bild vom Künstler als Seismographen trifft die Sache recht genau: Bei der geringsten Bewegung unter der Kruste soll der Künstler ausschlagen – sei es nun mit dem Pinsel oder mit der Computermaus. Der Künstler hält der Gesellschaft keinen Spiegel vor, so etwas tun Seismographen nicht: Ihre Richterskala zeigt aber an, was die gesellschaftlichen Konditionen und Mutationen in ihnen an Kleinstbeben ausgelöst haben. Kurz: Es ist die Aufgabe der Künstler, sich selbst zu sein, sich ernst zu nehmen, von dem zu sprechen, was sie beschäftigt – und alles, was damit zusammenhängt, auch für wichtig zu halten. – Es kann also eigentlich nur Künstler werden, wer sich selbst ernst nimmt – wer vielleicht als Kind schon die Erfahrung gemacht hat, dass er für das akzeptiert wird, was er ist. Oder zumindest muss, wer Künstler wird, die Hoffnung haben, dass er um seiner selbst Willen geliebt werden könnte. Leider haben nicht alle Menschen in unserer Gesellschaft auch Anlass zu einer solchen Hoffnung. Es gibt viele, die schon als Kinder die Erfahrung gemacht haben, dass sie nur Akzeptanz finden, wenn sie eine Rolle spielen – die Gründe dafür sollen hier nicht näher erläutert werden, das überlassen wir der Psychologie.

Nun blicken diese Menschen, die sich selbst nicht ernst nehmen dürfen, auf einen Künstler – und Wut kommt in ihnen hoch, denn was sie sehen, ist mehr als ungerecht: Wie kommt dieser Künstler nur dazu, seine eigenen Gefühle und Empfindungen so ernst zu nehmen? Warum bestraft ihn keiner, so wie ich bestraft würde, benähme ich mich wie er? Diese Wut ist gerecht, bewusst ist sie den meisten aber wohl nicht. Wäre sie es, so müssten die Betroffenen ja auch zugeben, dass sie eine Rolle spielen – und das wiederum würde sie bedrohen. Was also bleibt, ist ein weitgehend verdrängtes Gefühl des Neids. Damit zusammenhängend jedoch auch ein Sehnen nach diesem so anderen Leben oder Erleben, das da wie eine Wurst vor der Nase baumelt. – Nun bietet unsere westliche Gesellschaft ja zum Glück Alternativen an: Nebst künstlerischer Subjektivität etwa Objektivität, die zwar kein Glück, dafür aber Macht verspricht. Anstalten, die den Zeitgenossen objektiv machen, sind zum Beispiel Universitäten. Also setzen sich die Menschen, die keine Künstler sein dürfen, die aber die Wurst vor ihrer Nase auch nicht ganz vergessen können, erst einmal in die Kollegiengebäude und studieren zum Beispiel Kunstgeschichte. Sie machen Diplome, werden Doktoren und sind irgendwann so weit, dass sie sich nun als Kritiker vom Balkon der Objektivität herab über Kunst äussern können.

Der Neid und auch das Sehnen sind indes immer noch da. Mehr denn je vielleicht gar, denn schliesslich ist man älter geworden und spielt doch immer noch eine Rolle – die ist zwar wichtiger als früher und es lässt sich gar Geld und Ruhm damit machen, es ist aber nach wie vor (nur) eine Rolle. Kein Wunder, sind viele Texte über Kunst von diesen zwei unterschwellig aktiven Gefühlen geprägt: Dem Neid, der zur Zerstörung drängt, und dem Sehnen nach dieser anderen Möglichkeit des Er-Lebens. Der Neid führt dazu, dass die Kritiker die Strafe für den Künstler nachliefern wollen, die andere zu verhängen versäumt haben. Das Sehnen führt dazu, diesem Anderen möglichst nahe sein zu wollen. Da sowohl eindeutige Zerstörungswut wie auch geschriebene Liebeserklärungen die Rolle wiederum aufdecken würden, die man spielt, muss beides gut kaschiert werden. Unverständliche und nichtssagende Texte sind das Resultat.

Wenn Beuys sagt, jeder sei ein Künstler, dann müssen wir ihn korrigieren: «Jeder wäre gern ein Künstler», müsste es richtiger heissen. Kritiker sind solche Möchtegern-Künstler. Das ist peinlich, ja. Doch wären wir uns als Kritiker bewusst, dass wir lieber Künstler wären, dann könnten wir zumindest versuchen, möglichst oft über das zu schreiben, was uns angesichts von Kunst wirklich subjektiv beschäftigt – und nicht über das, was uns die Macht der Objektivität erhält. So gesehen wäre es auch eine Chance, ein frustrierter Künstler zu sein.

Dieser Text von José Maria wurde erstmals publiziert in: «Die Wochenzeitung», 26. September 2003, Nr. 39 / S. 21.

Manche halten Kunstkritiker für die Geier des Betriebs.
Geier-Auge.