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In seiner 6. «WoZ»-Kolumne vom 9. Oktober 2003 versucht José Maria mit Platons Hilfe das grosse Kunst-Mehrwerttheater zu erklären. Er konstatiert ausserdem, dass im Bereich der Kunst ständig eine gewisse Aufregung herrscht – was kein Wunder ist, wird hier doch ganz offensichtlich mit jenem Pinselstrich an den Grundpfeilern des Daseins gerüttelt.
Hausdach mit dem Schriftzug "Cosmos".

6. Grundsätzliches («Das grosse Mehrwerttheater»)

Ich habe Platon wohl etwas zu früh gelesen – lange bevor ich zum ersten Mal in meinem Leben in ein Flugzeug gestiegen bin. Das hatte Konsequenzen. Denn weil ich, wie wohl fast alle Insulaner, ein starkes Bedürfnis nach handfester Orientierung habe, musste ich das Reich der Ideen, das mir in Platons Schriften begegnete, sogleich im realen Raum positionieren. Und was lag da näher, als die Vermutung, Platons reine Ideen müssten doch wohl irgendwo in dem klaren Himmel über unserer Insel anzutreffen sein - glitzernde, gläserne Wesen. – Auch heute noch ertappe ich mich gelegentlich dabei, dass ich in verträumten Flugmomenten die Luft über dem Flügel einer Caribe Air oder Air France nach jenen kleinen Engelswesen absuche, die meine katholische Erziehung aus Platons reinen Ideen geformt hat - und manchmal frage ich mich dann, was wohl mit ihnen geschieht, wenn sie erst in die Turbulenzen unseres Jetstreams geraten.

Dabei wünsche ich mir oft, die Sache wäre wirklich so einfach. Sie ist es bekanntlich nicht. Hat Platon doch mit seiner Ideen-Lehre ein wirklich fettes Problem in die Welt gesetzt. Man könnte sagen, dass der alte Grieche eine Art Börsen-Crash in der Dingwelt bewirkt hat, mit dessen Folgen wir bis heute beschäftigen müssen. Denn was auch immer wir als konkreten Gegenstand vor uns haben, ist laut Platons Lehre nicht mehr als der Abklatsch einer ungemein grösseren, ungemein schöneren, ungemein bedeutenderen Idee. Was uns im Alltag begegnet, ist also auch immer vergleichsweise weniger wert als das, was uns eben gerade nicht begegnet. – Nun könnten wir uns damit trösten, dass diese Ideen selbst ja in einer Art Paradies zu Hause sind, in das wir als Menschen jedenfalls keinen Einblick haben. Aber natürlich geben wir uns damit nicht zufrieden. Nein: Der Frust, dass die Dinge vor uns immer nur zweitklassig sein können, schürt unser Begehren nach ihrer erstklassigen Gestalt ganz enorm.

Vor allem im Bereich der Kunst. Angesichts eines Stuhls können wir uns ja noch damit abfinden, dass er nur der Abklatsch einer ungemein stuhligeren Idee ist, auf die wir keinen Zugriff haben - ist der konkrete Stuhl doch auch so hinlänglich bequem, zumindest wenn unsere Beine schwer genug sind. Bei der bildenden Kunst aber (die sich ja mit der Moderne vieler pragmatischer, also stuhlähnlicher Aufgaben entledigt hat) bricht unser nachplatonischer Frust voll durch, schreien unsere Minderwertigkeitsgefühle nach Ausgleich und Vergeltung. - Da wir die konkreten Kunstdinge selbst aber nun mal nicht in der gewünschten Weise verbessern können, bleibt uns nichts anderes übrig, als den ersehnten Mehrwert herbeizureden - und da ist vor allem die Theorie oder besser die Kunstkritik ganz schön gefordert. Mit Hilfe von Worten versucht sie also den Dingen einen Sinn zu geben, den sie zuvor nicht hatten. Wobei die Kritik meistens so tut, als führten ihre gedanklichen Anstrengungen dazu, dass sie den Dingen einen Sinn entlockt, der auch zuvor schon in ihnen verborgen war – für unser Auge allerdings unsichtbar wie das Vitamin C in der Banane.

Wobei wir hier Sinn nicht mit Zweck verwechseln dürfen. Der praktische Zweck, den ein Ding in unserem Alltag haben kann, definiert seinen Ort in unserer alltäglichen Welt, im Diesseits. Der Sinn aber, den wir in einem Ding zu entdecken glauben, schafft eine Verbindung zu seinem Ort in einer Welt jenseits unseres Erfahrungsbereichs – zu Platons Welt der reinen Ideen zum Beispiel. Deshalb weist jede Sinnzuschreibung auch fast automatisch über unser Leben hinaus. Damit ein Kunstding diesen Mehrwert bekommen kann, der es für uns erst so richtig kostbar macht, muss es also die Möglichkeit zu höheren oder tieferen Erkenntnissen enthalten, religiöse Erfahrungen ermöglichen, Erlösung versprechen, Grundfragen des Dasein berühren etc. Kein Wunder, herrscht im Bereich der Kunst ständig eine gewisse Aufregung - wird hier doch ganz offensichtlich mit jenem Pinselstrich an den Grundpfeilern des Daseins gerüttelt. – Die Frage ist nur, was wohl passieren könnte, wenn die Kritik plötzlich auf das grosse Mehrwert-Theater verzichten würde? Würde die Kunst damit ihre Daseinsberechtigung verlieren? Oder würde bloss ihre Theorie obsolet? Vielleicht würden Platons reine Ideen ja plötzlich aus ihrem Himmelreich auf die Erde hernieder purzeln. Wahrscheinlich aber geschieht dieser Verzicht ja ohnehin erst am Tag des Jüngsten Gerichts. Dann aber wollen wir es wissen. 

Dieser Text von José Maria wurde erstmals publiziert in: «Die Wochenzeitung», 9. Oktober 2003, Nr. 41 / S. 21.

Platons reine Ideen – kleine, glitzernde Wesen in der Luft.
Ein Flugzeug lässt Kerosin ab.